Donnerstag, 21. Dezember 2017

Robin Hood der Normannen-Schreck: Sinn oder Unsinn einer Legende?


Der fiktive Held Robin Hood kämpfte Ende des 12. Jahrhunderts in einer Art Guerillakrieg gegen die normannischen Eroberer und Unterdrücker Englands. So zumindest stellt es Hollywood in unzähligen Filmen dar. Aber entspricht das überhaupt der im Mittelalter entstandenen Robin-Hood-Legende? Und waren die Normannen des Prinzen John tatsächlich solche Schurken?
Um hierauf eine Antwort zu finden, ist es sinnvoll, die historische Überlieferung aufzudröseln. Folgende Punkte sind dabei von besonderer Bedeutung:

  • Gibt es ein historisches Vorbild, das als Erklärung für Robin Hoods Charakterisierung als Normannen-Schreck taugt?
  • Wie gut oder schlecht war das Verhältnis zwischen Angelsachsen und Normannen am Ende des 12. Jahrhunderts tatsächlich?
  • Wie wandelte sich die Legende rund um Robin Hood im Laufe der Zeit?


"Ein Schicksalstag für England und die Zerstörung unseres geliebten Landes"

Obiges Zitat stammt aus der Feder des anglo-normannischen Geschichtsschreibers Wilhelm von Malmesbury. Der gelehrte Mönch bezieht sich hier auf den 14. Oktober 1066, als im südenglischen Hastings der angelsächsische König Harold Godwinson mit seinen Männern von einem Expeditionsheer unter Wilhelm, Herzog der Normandie, vernichtend geschlagen wurde. Wilhelm - der später den passenden Beinamen "der Eroberer" erhielt - nahm nach seinem Sieg auf dem englischen Königsthron Platz und errichtete über das Land eine straff organisierte Fremdherrschaft. Dabei tauschte er sukzessive die angelsächsische Führungsschicht gegen seine französischsprachigen Normannen aus (angelsächsische Chronisten wie Eadmer von Canterbury nenne die Invasoren schlicht franci bzw. Franzosen). Bezeugt wird dieser Vorgang im berühmten Domesday Book, dem großen Reichsgrundbuch Englands. 1086 - also 20 Jahre nach der Schlacht von Hastings - fand man gerade noch zwei (!) hochrangige altenglische Adelige darin - nämlich Thurkell von Arden und Colswein von Lincoln. Beim hohen Klerus verhielt es sich nicht wesentlich anders; mit Wulfastan von Worcester war lediglich ein einziger angelsächsischer Bischof in Amt und Würden geblieben. Insgesamt besaßen im Jahr 1086 angelsächsische Adelige nur noch 5 Prozent des Landes.


Ein bisschen 'copy & paste': Aus Hereward the Wake wird Robin Hood

Dass der unübersehbare Marginalisierungsprozess bei den Einheimischen auf Widerstand stieß, dürfte wenig überraschend sein. So kam es beispielsweise in den späten 1060er-Jahren zu einer von auswärtigen Dänen unterstützen Erhebung in Nordengland, die Wilhelm der Eroberer allerdings mit äußerster Brutalität relativ rasch niederschlagen konnte. Daraufhin zogen sich die Reste der Aufständischen ins nördlich von Cambridge gelegene Kloster Ely zurück, das aufgrund eines breiten Gürtels aus Mooren, Sümpfen und Marschen guten Schutz versprach. Mit erheblichem Aufwand ließ Wilhelm nun einen rund drei Kilometer langen Damm oder Bohlenweg zum Kloster errichten, eroberte Ely und nahm die Aufständischen gefangen. Einer ihrer Anführer entkam jedoch zusammen mit wenigen Getreuen - sein Name war Hereward, später auch Hereward the Wake genannt.  Herewards abenteuerliche Flucht bildete die Grundlage für zahlreiche mehr oder weniger fiktive Geschichten, die sich im hochmittelalterlichen England großer Beliebtheit erfreuten. Die ältesten erhaltenen schriftlichen Überlieferungen stammen aus dem frühen 12. Jahrhundert. Zu nennen sind hier vor allem die im Kloster Ely verfasste Gesta Herwardi sowie die Erzählungen des Chronisten Geoffrey Gaimar. 
Heute geht die Forschung davon aus, dass der mittlerweile fast vollständig in Vergessenheit geratene Widerstandskämpfer Hereward in mancherlei Hinsicht als Vorlage für die erstmals im Spätmittelalter klar fassbare Robin-Hood-Legende herangezogen wurde; allerdings, und das ist wichtig, war der Gegensatz zwischen Angelsachsen und Normannen kein Bestandteil dieser frühen Erzählungen, sondern kam erst zu einem relativ späten Zeitpunkt ins Spiel. Dazu etwas weiter unten mehr.
Exkurs zu den möglichen Ursprüngen des Namens Robin Hood: 'Robin' war im England des Hohen Mittelalters ein sehr beliebter Vorname. Außerdem besteht eine gewisse klangliche Ähnlichkeit zwischen 'Robin' und 'Robbery', dem englischen Wort für Raub. 'Hood' wiederum bezog sich auf ein im Hoch- und Spätmittelalter beliebtes Kleidungsstück mit Kapuze, das auch als 'Gugel' bezeichnet wurde. Hingegen die berühmte grüne oder braune Kappe ('bycocket'), die wir heute zumeist mit dem berühmten Geächteten aus dem Sherwood Forest in Verbindung bringen, ist ein deutlich später hinzugedichtetes Accessoire, das übrigens ohnehin erst im 13. Jahrhundert in Mode kam.


Sprache und Identität im späten 12. Jahrhundert: Angelsachse? Normanne? Engländer?

Auf der einen Seite steht die Schlacht von Hastings und Herewards Widerstandskampf gegen die Normannen in den 1060er- und 1070er-Jahren; auf der anderen Seite befinden sich Hollywoods Robin-Hood-Verfilmungen, die üblicherweise in den frühen 1190ern angesiedelt sind, als sich der englische König Richard Löwenherz in ausländischer Gefangenschaft befand; dazwischen liegen beinahe eineinhalb Jahrhunderte. Waren sich nach so langer Zeit die angelsächsische Bevölkerung und die normannischen Eroberer immer noch spinnefeind, wie es in unzähligen Kinofilmen suggeriert wird? 
Zuerst einmal muss festgehalten werden, dass Wilhelms Normannen England zwar innerhalb weniger Jahre vollständig unterjochten, jedoch gemessen an der Gesamtbevölkerung zahlenmäßig kaum ins Gewicht fielen. Nur 20 000 bis 25 000 sollen es schätzungsweise gewesen sein - und das bei insgesamt rund zwei bis zweieinhalb Millionen Einwohnern. Dieses starke Ungleichgewicht führte dazu, dass die Normannen - trotz eines gewissen Nachsickerns neuer Elemente aus ihrer Heimat - relativ rasch in der angelsächsischen Mehrheitsbevölkerung aufgingen. Allgemein wird heute angenommen, dass etwa 100 bis 150 Jahre nach der Eroberung Englands die Angleichung der beiden Gruppen überwiegend abgeschlossen war. Eine normannische Identität existierte danach quasi nicht mehr. Schon Anfang des 12. Jahrhunderts sind starke Anzeichen für diese Entwicklung zu erkennen. Etwa wenn der bereits oben zitierte Wilhelm von Malmesbury († um 1143) meint, dass er Wilhelm den Eroberer weder positiv noch negativ beschreiben möchte. Stattdessen wolle er einen Mittelweg wählen. Bezeichnenderweise begründet er das ausdrücklich damit, dass er selbst halb Engländer und halb Normanne ist - also aus einer Mischehe hervorging. Dergleichen unterstreicht in den 1170er-Jahren auch Richard fitz Nigel, der Leiter des Schatzamtes: Normannen und Angelsachsen hätten sich durch gegenseitiges Heiraten schon dermaßen vermischt, dass sie kaum voneinander zu unterscheiden wären, schreibt er.
Diese Entwicklung hinterließ ihre Spuren nicht zuletzt in der Sprache. Am Ende des 12. Jahrhunderts sprach der anglo-normannische Adel vor allem Englisch als Muttersprache. Wobei es sich freilich nicht mehr um das (germanische) Altenglisch der Angelsachsen handelte, sondern um eine Weiterentwicklung, die mit etlichen französischen Worten angereichert worden war. Was wiederum zu interessanten Doppelgleisigkeiten führte. So hieß beispielsweise das lebende Rind weiterhin cow (vergl. Kuh); das Fleisch des Rindes wurde nun allerdings beef genannt (vom frz. bœuf). Auch das lebende Schaf behielt seine alte Bezeichnung - nämlich sheep; Schaffleisch jedoch nannte man mutton (vom frz. mouton). Übrigens, hier dürften jene sozialen Unterschiede zwischen Angelsachsen und Normannen nachhallen, wie sie unmittelbar nach der Eroberung vorherrschten. Überspitzt formuliert könnte man nämlich sagen: Die Angelsachsen hüteten das lebendige Vieh, ihre normannischen Herren verspeisten das Fleisch.


Napoleon war schuld: Robin Hood im Wandel der Zeit und des Zeitgeistes

Obwohl Eroberer und Eroberte am Ende des 12. Jahrhunderts weitestgehend zusammengewachsen waren und eine gemeinsame englische Identität herausgebildet hatten, so wird in Robin-Hood-Filmen üblicherweise trotzdem ein scharfer Gegensatz zwischen Normannen und Angelsachsen behauptet. Warum? Auf wessen Mist ist das gewachsen? Zur endgültigen Beantwortung dieser Fragen muss man etwas weiter ausholen und die Entwicklung der Legende betrachten:
Greifbar wird die Figur Robin Hood für uns erstmals in einem Text aus dem Jahr 1380. Der mittelenglische Dichter William Langland legte zu dieser Zeit einem Priester folgende Worte in den Mund: "Ich kann zwar nicht das Vaterunser so perfekt singen, wie es sich für einen Priester gehört, aber dafür kenne ich Robin-Hood-Reime." Der Zeitpunkt des ersten Auftauchens von Robin Hood in der Überlieferung ist hochinteressant, denn er korreliert mit den damaligen sozialen Problemen, die nur ein Jahr später in die große Peasants’ Revolt mündeten. Kaum zufällig entstanden zeitgleich auch viele andere Erzählungen, die den Aufstand des kleinen Mannes gegen die Obrigkeit thematisierten. Die ältesten erhalten gebliebenen Robin-Hood-Balladen stammen allerdings erst aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts; sie fanden etwas später als billige Einblattdrucke weite Verbreitung. In ihnen begegnet man bekannten Figuren wie dem Sheriff von Nottingham und Sir Guy von Gisborne. Auffälliger Unterschied zu späteren Erzählungen ist allerdings, dass hier noch nicht Richard Löwenherz in der Rolle des englischen Königs vorkommt, sondern der wesentlich später lebende Eduard II. oder III. Erst John Major versetzte in seiner Historica majoris Britanniae (1521) Robin Hood in die Zeit von Richard Löwenherz (12. Jh). Major war übrigens auch der erste Autor, der erwähnte, dass Robin Hood die Reichen bestahl und seine Beute den Armen gab. Im Drama The Downfall of Robert Earl of Huntingdon (1598) wird Robin dann erstmals eine adelige Herkunft angedichtet; davor wurde er lediglich als freier Bauer/Pächter ('yeoman') beschrieben. Außerdem ist hier nun die Rede davon, Robin sei mit wenigen Getreuen und seiner Geliebten in den Sherwood Forest geflüchtet, um dem Zugriff des bösen Johann Ohneland (Prinz John) zu entkommen. Spätestens jetzt nimmt die Legende jene Züge an, mit denen wir heute so vertraut sind.
Im Jahr 1795 - als die frühromantische Mittelalter-Begeisterung gerade Fahrt aufnahm - veröffentlichte der englische Antiquar Joseph Ritson eine große Sammlung der ihm bekannten und zugänglichen Erzählungen über Robin Hood. Der etwas sperrige Titel lautet: Collection of the Ancient Poems, Songs, and Ballads, now extant, relative to that celebrated English Outlaw. Sir Walter Scott, der Begründer des historischen Romans, zog diese Sammlung für seinen 1819 veröffentlichen Bestseller-Roman Ivanhoe heran. Und genau darin wird nun zum ersten Mal in Zusammenhang mit Robin Hood (hier "Robin von Locksley" genannt) die normannisch-französische Fremdherrschaft über das angelsächsische England thematisiert. Um einen Zufall handelte es sich dabei freilich nicht, denn nur wenige Jahre zuvor waren große Teile Europas vorübergehend unter die Fuchtel des napoleonischen Frankreichs geraten. Der Widerspruch, dass natürlich auch der von Scott hochgejubelte Löwenherz normannischer Abstammung war - und noch dazu die meiste Zeit auf seinen riesigen kontinentalen Besitzungen in Frankreich verbracht hatte - wird mit der Behauptung umschifft, der König habe immerhin ein geeinigtes England aus Normannen/Franzosen und Angelsachsen schmieden wollen - was, siehe oben, aus historischer Sicht im späten 12. Jahrhundert ohnehin längst geschehen war.

Offensichtlich war es ein langer Weg, bis sich die ursprüngliche Robin-Hood-Legende in ihre gegenwärtige Form gewandelt hatte. In Anbetracht der historischen Faktenlage wäre es allerdings begrüßenswert, wenn zukünftige Filme oder Bücher über Robin Hood im England des späten 11. Jahrhunderts angesiedelt wären. Nur hier stellt nämlich der angelsächsische Widerstandskampf gegen die normannischen Eroberer eine glaubwürdige Rahmenhandlung dar.
Oder noch besser, man vergisst den überstrapazierten Robin Hood ganz und wendet sich stattdessen dem mindestens genauso spannenden Original zu: Hereward the Wake!

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 https://hiltibold.blogspot.com/2017/12/robin-hood-hollywood.html

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Weiterführende Literatur / Quellen:
  • Dominik Waßenhoven | 1066 - Englands Eroberung durch die Normannen | C.H. Beck | 2016 | Meine Rezension | Infos bei Amazon
  • Alexander Schubert (Hrsg.) | Richard Löwenherz: König - Ritter - Gefangener | Schnell + Steiner | 2017 | Infos bei Amazon
  • R. Allen Brown | Die Normannen | dtv | 1991 | Infos bei Amazon

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6 Kommentare:

  1. Der Punkt mit den Normannen als die Oberschurken hat mich auch immer gestört. Dass dahinter eine dermaßen komplexe, weit zurückreichende Entstehungsgeschichte steckt, hätte ich mir aber nie gedacht.

    Frohe Weihnachten,
    Florian

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  2. Viele Engländer geben es witzigerweise nicht gerne zu, dass sie 1066 eigentlich von den alten Erbfeinden, den Franzosen, erobert worden sind. Die tun stattdessen lieber so, als ob die Normannen von 1066 noch so eine Art Wikinger waren. Dein Hinweis, dass angelsächsische Chronisten die Normannen allerdings als Franken / Franzosen bezeichnet haben, zeigt, wie die Eindringlinge von den Zeitgenossen schon damals korrekterweise wahrgenommen worden sind. Interessanter Artikel!
    BB

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    1. Damit haben in der Tat gar nicht einmal so wenige ein Problem ;)
      Siehe dazu auch meinen oben Verlinkten Beitrag "Waren die Normannen von 1066 "Franzosen"?"

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  3. "Die ältesten erhaltenen schriftlichen Überlieferungen stammen aus dem frühen 11. Jahrhundert. "
    Hier muss ein Schreibfehler unterlaufen sein.
    Übrigens war das französische Element doch stärker, denn rund die Hälfte des englischen Wortschatzes ist französischer Herkunft.
    Leser

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    1. Danke für den Hinweis, es sollte natürlich "12. Jahrhundert" heißen.

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