Ein Historiker im modernen Sinn war Livius († um 17 n. Chr.) nicht. Weil es ihm ein Anliegen war, seine Leserschaft im Sinne einer moralischen Erneuerung Roms zu belehren, neigt er beispielsweise dazu, Begebenheit, die seiner Deutung der Geschichte widersprechen, einfach unter den Teppich zu kehren oder umzudichten. Trotzdem stellt sich die Frage, in welchem Ausmaß er selbst der Urheber fragwürdiger Überlieferungen ist. Denn einige der von der modernen Forschung kritisierten Ungereimtheiten könnten bereits in jenen alten Quellen zu finden gewesen sein, aus denen Livius seine Informationen bezog. Da er diese allerdings nur selten nennt - und die meisten ohnehin nicht mehr existieren - ist eine entsprechende Überprüfung schwierig bis unmöglich. Interessanterweise äußert sich Livius jedoch mitunter durchaus quellenkritisch.
Livius' großes Geschichtswerk Ab urbe condita umfasste ursprünglich 142 Bücher; diese sind allerdings nur teilweise überliefert. Zeitlich beginnt er seine Schilderungen - anders als der Titel vermuten lässt - nicht mit der Gründung von Rom durch Romulus, sondern schon einige Jahre zuvor, als angeblich der trojanische Held Aeneas in Italien landete. Mythen wie dieser sind es dann auch, die die ersten Bücher der vorliegenden Ausgabe von Reclam inhaltlich prägen. Als historische Quelle ist dergleichen unbrauchbar, könnte man nun urteilen. Doch die von Livius verarbeiteten Sagen beinhalten viele wichtige Informationen, die helfen, die Kultur und die Religion des antiken Roms zu verstehen. Darüberhinaus weist er auf sich stark unterscheidender Varianten von auch heute noch berühmten Erzählungen hin. So wurden etwa die Zwillinge Romulus und Remus in einer dieser Varianten gar nicht von einer Wölfin gesäugt - vielmehr sei es Larentia, die Frau eines Hirten, gewesen. Diese hatten ihre Zeitgenossen aber, wie es heißt, lupa (Wölfin) genannt, weil sie "ihren Leib wahllos preisgab". Damit wird auf den Umstand angespielt, dass lupa im antiken Rom die Bezeichnung für eine Prostituierte war.
Livius beschäftigt sich freilich nicht ausschließlich mit der Mythologie Roms. Vielmehr nimmt im Laufe der Zeit auch die Dichte an historisch greifbaren Ereignissen zu; dazu zählt beispielsweise die im 5. Buch geschilderte Eroberung Roms durch Brennus und seine Gallier. Des Weiteren lässt Livius sozusagen 'en passant' immer wieder Informationshäppchen fallen, die für die Altertumsforschung aufgrund kaum vorhandener anderer Quellen von großer Bedeutung sind. Etwa wenn es heißt, dass viele Machtsymbole der hohen römischen Amtsträger - wie die purpurgesäumte Toga, der Kurulische Stuhl und die Liktoren - von den Etruskern übernommen wurden.
Die vorliegende zweisprachige Übersetzung der ersten fünf Livius-Bücher stammt von Robert Feger, Ludwig Fladerer und Marion Giebel. Der lateinische Originaltext wurde von ihnen in ein modernes, allgemein verständliches Deutsch übertragen. Außerdem sind ein umfangreiches Verzeichnis der Eigennamen, zwei Karten, viele erklärende Anmerkungen/Endnoten und ein relativ ausführliches Nachwort enthalten. Einziger 'Mangel': Der Billigeinband. Das rund 1100 Seiten umfassende Buch kostet 24 Euro.
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