Eines Verbrechens gegen die Sittlichkeit angeklagt, hatte sich gestern der 37jährige Weltpriester Lucas Kinateder vor dem Schwurgerichte, welchem Landesgerichts-Vicepräsident Hofrath Dr. Ritter von Holzinger präsidirte, in geheimer Verhandlung zu verantworten. Der Angeklagte, welcher zulezt als Religionslehrer an der Bürgerschule in der Schopenhauergasse im XVIII. Bezirke angestellt war, erschien in priesterlicher Kleidung vor Gericht. Es wurde ihm zur Last gelegt, daß er am 9. August v. J., als er zum Ferienaufenthalte bei seinem Vater in seinem Heimatsorte Oberdiendorf in Baiern weilte, an der damals vierzehneinhalb Jahre alten Maria D., welche bei dem Grundbesitzer Sonndorfer im Dienste stand, ein unsittliches Attentat verübt habe. Die Anklage in diesem Prozesse vertrat StAS. Doctor Schuster, als Vertheidiger des Angeklagten fungirte Dr. Puvovac.
Zur Charakterisirung des Angeklagten und zum Nachweise des Umstandes, daß sich derselbe schon vor Verübung dieser That seiner Stellung als Priester unwürdig gemacht habe, führte die Anklage einen umfassenden Illustrations-Beweis. Kinateder führte schon früher einen sittenlosen Lebenswandel, hatte Beziehungen zu einer verheirateten Frau und ist Vater mehrerer unehelichen Kinder. Der Abt des Cistercienser-Stiftes Schlierbach, in welchem sich Kinateder als Novize befand, sprach sich in höchst abfälliger Weise über ihn aus und das geistliche Gericht in Linz verurtheilte ihn zu sechsmonatlicher Internirung in der geistlichen Strafanstalt Mitterberg und untersagte ihm für immer die Ausübung des Seelsorgeramtes.
Auf die Frage, ob er sich des ihm zu Last gelegten Verbrechens schuldig bekenne, antwortete der Angeklagte mit "Nein" und suchte den ganzen Vorfall nur als einen harmlosen Scherz hinzustellen. Vorsitzender: "Es würde sich wohl auch für einen Priester nicht schicken, mit einem Mädchen, das noch nicht ganz fünfzehn Jahre alt ist, solche Scherze zu machen, wie Sie selbst zugeben. Allein das Mädchen hat seine Aussage beschworen und wird Ihnen die Beschuldigung auch in das Gesicht sagen. Sie sollen auch als Sie noch Novize waren, mit einer verheirateten Frau sträfliche Beziehungen unterhalten haben." Der Angeklagte suchte diese Sache so darzustellen, daß eigentlich er, der damals 25 Jahre zählte, von der 38jährigen Frau verführt worden sei.
Vors.: "Sie haben auch mit der Dienstmagd Aloisia W. Beziehungen unterhalten." -- Angekl.: "Mit der bin ich nur ein einziges Mal zusammengekommen." Vors: "Sie sollen aber der Vater ihres Kindes sein." -- Angekl.: "Das sagt sie."
Der Vorsitzende hält dem Angeklagten vor, daß er auch mit der Dienstgeberin dieses Mädchens in ebensolcher Weise verkehrte. Ferner bezeichnen ihn eine Kellnerin, eine Köchin in Bad Kreuzen und eine Magd in Altenfelden als Vater je eines ihrer Kinder. Der Vorsitzende bemerkt bei dem letzten Factum: "Das wäre also das vierte Kind." Der Angeklagte vermag diese Thatsache nicht in Abrede zu stellen.
Vors.: "Sie sollen in letzter Zeit in einem Knabenasyl angestellt gewesen sein, wo es gleichfalls wegen zweier Frauen einen Anstand gab." -- Angekl: "Das waren zwei Aufsichtsdamen, Mutter und Tochter, denen ich dafür dankbar war, daß sie mir diese Stelle verschafften."
Vors.: "Man fand die Sache aber bedenklich und vermuthete, daß diese Beziehungen nicht correct seien." -- Angekl.: "Das war aber nicht der Fall."
Vors: "Sie sagen nun, daß es sich bei dem Falle in Diendorf nur um einen Scherz gehandelt habe. Es hat aber schon die ganze Gegend davon gesprochen. Haben Sie Nichts dagegen unternommen?"
Staatsanw.: "Der einzige Schritt, den er unternahm, war, daß er die Flucht ergriff." -- Angeklagter: "Ja, es war schon Zeit." -- Staatsanwalt: "Höchste Zeit, denn der Gendarm war schon im Begriffe, Sie zu verhaften". -- Vors.: "Der dortige Pfarrer hat Ihnen geschrieben, Sie sollen die Gegend verlassen, da es ihm unangenehm gewesen wäre, wenn ein Geistlicher in seinem Pfarrsprengel verhaftet worden wäre."
Verth.: "Wann war das?" -- Angekl.: "Drei Wochen nach dem 9. August." -- Vors.: "Wir werden auch hören, warum es so lange gedauert hat, bis die Sache bekannt wurde. Weil die dortige katholische Bevölkerung sich scheute, gegen einen Geistlichen auftreten."
Es beginnt sodann die Zeugenvernehmung. Die früher erwähnte Dienstmagd Aloisia W., die jest 26 Jahre zählt. gibt an, daß sich ihr der Angeklagte unter Umständen genähert hatte, welche fast seine damalige Handlungsweise gleichfalls als eine verbrecherische erscheinen lassen könnte. Sie sagt, sie habe es nicht gewagt, um Hilfe zu rufen, weil ihr Bedränger ein Geistlicher war. Sie habe jedoch zu ihm gesagt: "Jetzt haben Sie den ganzen Nachmittag Beichte gehört und benehmen sich so!" Sie habe sich dann sehr getränkt, weil die Sache nicht ohne Folgen blieb und sie viel Spott von den Leuten erleiden mußte. Kinateder habe sie einmal getroffen und sie gefragt: „Na, Loisi, warum so verweint?" Worauf sie ihm zur Antwort gab: "Hochwürden, i glaub', Sie haben mi' unglückli' g'macht!" Sie habe ihn erst dann als den Vater ihres Kindes genannt, als die Vormundschaftsbehörde darauf drang. Anfangs habe er Nichts für das Kind gezahlt, dann in Raten zusammen 28 fl. Nach anderthalb Jahren sei das Kind gestorben.
Frau Katharina H., bei welcher die Aloisia W. Dienstmädchen war, gab sodann als Zeugin an, daß die Genannte im Dienste sehr brav war. Die Angabe des Angeklagten, daß er mit ihr selbst auch intime Beziehungen gehabt habe, bezeichnete fie als eine Lüge und sagte, daß ihr Kinateder feindlich gesinnt sei, weil sie ihn beim Bischof in Linz angezeigt habe. Es müsse dies aus den Acten ersichtlich sein. -- Vors.: "Diese Acten befinden sich nicht hier. Der Bischof hat uns die Einsendung des geistlichen Disciplinaractes verweigert."
Nach einer anderen Version soll Frau H. Kinateber übel gesinnt sein, weil er nicht eben solche Beziehungen zu ihr einging, wie sein Vorgänger. Bum Beweise, daß Kinateder ihr früher nicht so feindselig gegenüberstand, producirte Frau H. eine Namenstags-Gratulation desselben folgenden Inhalts: "Lucas Kinateder, Cooperator, gibt sich die Ehre, zum heutigen Katharinentage seine besten Wünsche auszusprechen."
Vors. zum Angeklagten: "Entweder ist das wahr, was Sie über diese Frau sagen, und dann haben Sie als Priester sehr verächtlich gehandelt, oder es ist nicht wahr, dann ist das ebenso verächtlich."
Die übrigen Mütter der Kinder, welche den Angeklagten Vater nennen, gaben an, daß er nur wenig Alimente bezahlt habe. Der Angeklagte erklärt dies damit, daß er nach seiner Abgabe in eine geistliche Strafanstalt Nichts mehr zahlen konnte.
Die Gemeinde Altenfelden, in welcher Kinateder im Jahre 1894 als Cooperator thätig war und in der er auch ein Mädchen mit einem Kinde zurückließ, hat dem Angeklagten folgendes Zeugniß ausgestellt: "Er ist ein eifriger Kinderfreund, ein jederzeit hilfsbereiter Tröster und hat in der Gemeinde ein so gutes Andenken hinterlassen, daß bei seinem Abschiede langes, allgemeines Weinen herrschte."
Es wurde nun die fünfzehnjährige Marie Bilsel, ein hübsches blondes Mädchen, vernommen. Die Zeugin bestätigte, daß Kinateder eines Tages, zu einer Zeit, da er wußte, daß ihre Dienstgeber auf dem Felde waren und sie sich mit einem zweijährigen und einem vierjährigen Kinde allein in der Wohnung befand, gekommen sei und das von der AnKlage angeführte Verbrechen begangen habe. Sie habe dies ihrem Dienstgeber bei seinem Nachhausekommen sogleich mitgetheilt. -- Vors.: "Haben Sie es auch Ihrem Vater erzählt?" -- Zeugin: "Ja." -- Vors: "Damit er es anzeigt?" -- Zeugin: "Na, damit er's a waß." -- Vors.: "Warum haben Sie es nicht dem Gendarmen erzählt?" -- Zeugin: "Weil die Leut' g'sagt haben, i soll's nöt anzeigen, weil sunst a rechte Metten außerkummt."
Nach durchgeführter Verhandlung wurde der Angeklagte im Sinne des von den Geschwornen einstimmig abgegebenen Verdictes wegen des von ihm begangenen Verbrechens gegen die Sittlichkeit zu drei Jahren schweren Kerkers verurtheilt. Als erschwerend wurde die besondere Pflichtverletzung, deren sich Kinateder als Geistlicher schuldig gemacht hatte, angenommen. Sein Vertheidiger Dr. Puvovac meldete die Nichtigkeitsbeschwerde an.