
"Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich." An diesen Satz musste ich kürzlich wieder einmal denken, als ich in "Ab urbe condita" - dem großen Geschichtswerk des römischen Historiographen Titus Livius - blätterte. In jenem Teil, in dem vor allem der 2. Punischen Krieg (Hannibal!) behandelt wird, stieß ich auf eine Nebenerzählung, die mich sofort fesselte. Beim Lesen der Schilderungen kam mir nämlich Vergleichbares aus der jüngeren Vergangenheit und sogar aus der unmittelbaren Gegenwart in den Sinn: Die österreichische Lucona-Affäre und die haarsträubende Megakorruption im ukrainischen Polit- und Verwaltungsapparat.
Bei der sogenannten Lucona-Affäre ging es um Versicherungsbetrug. Das gleichnamige Schiff und seine eigentlich wertlose Ladung wurden teuer versichert und 1977 auf hoher See mittels Zeitzünder versenkt. Dann stellte sich in den 1980er- und 1990er-Jahren im Rahmen einer juristischen Aufarbeitung der Angelegenheit auch noch heraus, dass die Kriminellen - allen voran das SPÖ-nahe Unikum Udo Proksch - von hochrangigen Politikern u.a. mittels Interventionen bei der Justiz gedeckt wurden.
Und hinsichtlich der Ukraine: Dieser Staat bezeugt gerade eindrücklich wie Krieg solche und ähnliche Vorgänge zusätzlich begünstigt. Korruptionisten können allerhand Vorwände aus den Hut zaubern, um beispielsweise Verluste von militärischen und zivilen Gütern durch angebliche Kriegseinwirkung bei Versicherungen geltend zu machen. Auch wenn es in Wirklichkeit ganz anders gewesen ist.
Behalten wir all diese Dinge kurz im Kopf, wenn wir uns nun die Schilderungen von Ereignissen durchlesen, die immerhin schon vor rund 2200 Jahren - in der Spätphase des zweiten Kriegs zwischen Rom und Karthago - stattfanden (ich habe in und zwischen den Textabschnitten Anmerkungen eingefügt, die das Verständnis erleichtern sollen).
Die Truppenaushebung der Konsuln (quasi die beiden Regierungschefs und obersten Militärbefehlshaber im römische Staatswesen vor der Kaiserzeit) wurde durch Marcus Postumius aus Pyrgi behindert, dessen Verhalten fast schwere Unruhen ausgelöst hätte. Postumius war ein Steuerpächter (siehe unten), der in der Bürgerschaft aufgrund seiner Betrügereien und Habgier lange Zeit nur mit Titus Pomponius Veji zu vergleichen war, dem Manne, den die Karthager unter der Führung Hannos im vergangenen Jahr bei einem seiner unbedachten Plünderungszüge in lukanischem Gebiet gefangen genommen hatten. Weil der Staat bei den Gütern, die zu den Truppen transportiert wurden, für Sturmschäden aufkommen musste, hatten Postumius und Pomponius Schiffbrüche fingiert, und selbst die Havarien, deren Anzeige der Wahrheit entsprach, waren von ihnen auf betrügerische Weise herbeigeführt worden und kein Unglücksfall. Sie hatten alte, angeschlagene Schiffe mit wenigen wertlosen Waren beladen, und wenn sie diese auf hoher See versenkt hatten - die Seeleute konnten sich auf bereitgestellten Kähnen retten - täuschten sie sehr viel höhere Verluste vor. Autor: Titus Livius | Titel: Ab urbe Condita, Buch 25, 3,8-11 | Übers.: Ursula Blank-Sangmeister | Verlag: Reclam, 2006 |
Steuerpächter zählten in der Zeit der Römischen Republik zu den unbeliebtesten Personen. Sie ersteigerten vom Staat das Recht, Steuern eintreiben zu dürfen. Dabei verpflichteten sie sich, den vom Staat berechneten Mindestbetrag des Gesamtsteueraufkommens für ein bestimmtes Gebiet abzuliefern, durften aber alles, was sie darüber hinaus lukrieren konnten, als Gewinn behalten. Entsprechend rücksichtslos gingen diese Leute beim Eintreiben vor und waren besonders in den Provinzen geradezu verhasst. Beispielsweise die berüchtigte "Vesper von Ephesos" - ein unsagbar grausamer Massenmord an römischen Bürgern in Kleinasien im Jahr 88 v. Chr. - war nicht zuletzt auf das Treiben solcher Steuerpächter zurückzuführen (ich habe darüber geschrieben).
Wenn man freilich gut mit der Politik vernetzt ist - und auch das ist wieder "Lucona" und Ukraine pur - dann konnte man sich der Strafverfolgung entziehen. Zumindest eine Zeit lang...
Dieser Betrug war im vergangenen Jahr beim Prätor (=u.a. für die Gerichtsbarkeit zuständiger Spitzenbeamter) Marcus Aemilius angezeigt worden, der auch den Senat darüber informiert hatte. Es kam jedoch zu keinem rügenden Senatsbeschluss, weil die Senatoren in dieser Situation den Stand der Steuerpächter nicht vor den Kopf stoßen wollten. Das Volk aber verfolgte den Betrug mit größerer Strenge und konnte schließlich zwei Volkstribunen (politisch agierende 'Volksanwälte'), Spurius und Lucius Carvilius, dazu bringen, aktiv zu werden: Als sie merkten, wie viel Hass und Empörung der Skandal erregte, belegten sie Marcus Postumius mit einer Geldstrafe von 200 000 As (=Münze). Am Tag, als über die Strafe verhandelt werden sollte, war die Volksversammlung so stark besucht, dass der Platz auf dem Kapitol die Menge kaum fassen konnte. Nachdem der Fall abschließend behandelt worden war, schien es für Postumius nur noch eine Hoffnung zu geben: Der Volkstribun Gaius Servilius Casca, ein enger Verwandter des Postumius (und Vorfahre des berühmten Caesar Attentäters mit dem gleichen Namen), musste Einspruch erheben, bevor die Tribus zur Stimmabgabe gerufen wurden (Tribus = Stimmbezirke, denen jeder römische Bürger zugeteilt wurde). Nachdem Zeugen gestellt waren, hießen die Tribunen das Volk zurücktreten und die Stimmurne herbeibringen, um auszulosen, wo die Latiner ihre Stimmen abzugeben hätten. Inzwischen bedrängten die Steuerpächter Casca, er solle die Versammlung auflösen. Das Volk erhob lautstarken Protest. Casca saß zufällig ganz außen auf der Tribunenbank, hin und her gerissen zwischen Furcht und Scham. Als sie bei ihm zu wenig Unterstützung fanden, bildeten die Steuerpächter, um die Verhandlung zu stören, einen Keil, drangen gewaltsam auf den nach der Räumung freien Platz und beschimpften sowohl das Volk als auch die Tribunen. Und es lief schon fast auf eine Schlägerei hinaus, als sich der Konsul Fulvius an die Tribunen wandte: Seht ihr nicht, dass ihr euer Amt nicht mehr ausüben könnt und es zu einem Aufruhr kommt, wenn ihr die Volksversammlung nicht umgehend auflöst? Autor: Titus Livius | Titel: Ab urbe Condita, Buch 25 3,12-19 | Übers.: Ursula Blank-Sangmeister | Verlag: Reclam, 2006 |
Man sieht an diesem Beispiel, dass die römische Form der Demokratie nur als äußerst "lebendig" bezeichnet werden kann 😉. Denn um einen Einzelfall handelte es sich hier nicht - siehe etwa mein Text: "Eine chaotische Gerichtsszene aus dem Antiken Rom."
Nach Entlassung der Volksversammlung wird der Senat einberufen, und die Konsuln erstatten über die dreiste Gewaltanwendung der Steuerpächter, die zu einer massiven Störung der Versammlung geführt hatte, Bericht. Sie erinnern daran, dass Marcus Furius Camillus, dessen Verbannung beinahe zum Untergang des Staates geführt hätte, sich von den erzürnten Bürgern habe verurteilen lassen. Vor ihm hätten sich die Dezemvirn (="Zehn Männer"-Kollegium), nach deren Gesetzen man bis auf den heutigen Tag lebe (sog. "Zwölf-Tafel-Gesetze"), ebenso wie später viele führende Männer der Bürgerschaft der Verurteilung durch das Volk gebeugt. Postumius aus Pyrgi aber habe das römischen Volk des Wahlrechts beraubt, die Volksversammlung gesprengt, die Autorität der Tribunen verletzt, gegen das römische Volk eine Schlachtreihe aufgestellt und die Stätte besetzt, um die Tribunen vom Volk zu trennen und den Wahlgang der Tribus zu vereiteln. Vor einem blutigen Kampf habe die Menschen nur die Langmut der Amtsträger bewahrt, da diese der Raserei und der Verwegenheit einiger weniger vorübergehend nachgegeben, ihre eigene Niederlage und die des Volkes hingenommen und die Wahlen, die der Angeklagte mit Waffengewalt verhindern wollte, aus eigenem Entschluss abgebrochen hätten, weil sie denen, die die Auseinandersetzung suchten, keinen Vorwand liefern wollten. Nachdem diese Darlegungen gerade bei den Rechtschaffensten angesichts der Abscheulichkeit der Angelegenheit auf Zustimmung gestoßen waren und der Senat befunden hatte, dass diese Gewalt gegen den Staat gerichtet sei und einen gefährlichen Präzedenzfall darstelle, ließen die Tribunen Spurius und Lucius Carvilius den Rechtsstreit über die Geldstrafe sofort fallen, klagten Postumius des Kapitalverbrechens an und ordneten für den Fall, dass er keine Bürgen stellen sollte, seine Festnahme und Inhaftierung durch den Gerichtsdiener an. Postumius brachte Bürgen auf, erschien aber nicht persönlich. Die Tribunen legten die Sache dem Volk vor, und es erging folgender Volksbeschluss: Falls Marcus Postumius nicht bis zum 1. Mai erschienen sei und, für diesen Tag einbestellt, nicht Rede und Antwort stehe und auch nicht entschuldigt sei, solle er als Verbannter betrachtet, seine Güter öffentlich versteigert und er selbst geächtet werden. Anschließend wurde jeder Einzelne, der Unruhe erregt und den Aufruhr geschürt hatte, des Kapitalverbrechens angeklagt und aufgefordert, Bürgen zu stellen. Zuerst wurden nur die Personen, die dem nicht nachkamen, ins Gefängnis geworfen (vermutlich in den am Forum liegenden Carcer Tullianus), dann aber auch diejenigen, die Bürgen stellen konnten. Um sich nicht dieser Gefahr auszusetzen, begaben sich die meisten in die Verbannung. So fanden der Betrug der Steuerpächter und die Verwegenheit, die diesen Betrug zu decken suchte, ein Ende. Autor: Titus Livius | Titel: Ab urbe Condita, Buch 25 4,1-11 | Übers.: Ursula Blank-Sangmeister | Verlag: Reclam, 2006 |
Verbannungen waren gerade in politisch brisanten Fällen typisch für die Zeit der Römischen Republik, als nämlich verhängte Todesstrafen gegen Personen mit Bürgerrecht sehr selten gewesen sein dürften und Gefängnisaufenthalte üblicherweise eher den Charakter einer Untersuchungshaft hatten. Ein bekanntes Beispiel ist der Fall des berüchtigte Gaius Verres (auch darüber habe ich bereits etwas geschrieben). Dieser politische Mega-Korruptionist musste nach einem verlorenen Prozess Rom verlassen und verbrachte den Rest seines Lebens im graeco-gallischen Exil in Massalia (Marseille). Kurioserweise erging es seinem siegreichen Prozessgegner, dem viel gerühmten Marcus Tullius Cicero, nur wenige Jahre später ähnlich. Wobei Ciceros Verbannung nur vorübergehend und vor allem politisch motiviert gewesen ist.
Wir können anhand des obigen Textes also festhalten, dass schlechte Menschen vor 2200 Jahren bereits sehr ähnlich tickten wie ihre modernen Nachfahren. Ja, selbst Versicherungsbetrug gab es damals schon. Und zumindest damit hätten heute wohl die wenigsten Leute gerechnet.
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