Dienstag, 30. April 2024

🐬 Der Delphin als Lebensretter und Freund: Bemerkenswerte antike Berichte von Herodot und Plinius

Delphin-Fresko in Knossos

Dass Delphine immer wieder Menschen das Leben retten ist durch viele einschlägige Berichte belegt. Wie weit das älteste dieser Zeugnisse aber schon zurückliegt, überrascht dann doch. Der antike Geschichtsschreiber Herodot von Halikarnassos schreibt im 1. Buch seines Geschichtswerks "Historien" (historíai) von einem entsprechenden Vorfall, der sich rund 150 Jahre vor seinen Lebzeiten, nämlich um 600 v. Chr., zugetragen haben soll. Ersichtlich wird anhand des überlieferten Textes ganz nebenbei auch, dass Seereisen in der Antike nicht nur aufgrund von Stürmen und am Horizont auftauchenden Piratenschiffen äußerst gefährlich sein konnten, sondern sich das Unglück mitunter auf eine Weise manifestierte, die uns heute unerwartet erscheint, damals aber - wie man dem Text zwischen den Zeilen entnehmen kann - vielleicht gar nicht so selten gewesen ist. Es stellt sich daher die Frage, wie viele Unglücksraben in der Antike aufgrund ähnlicher Umstände in einem nassen Grab endeten...

[...]. Periandros war Tyrann von Korinth. Ihm widerfuhr, wie die Korinther erzählen - darin stimmen die Lesbier mit ihnen überein - während seines Lebens eine äußerst merkwürdige Geschichte: Arion aus Methymna sei auf einem Delphin nach Tainaron gebracht worden, der Sänger zur Kithara, der keinem seiner Zeitgenossen nachstand, und habe als erster Mensch, soweit wir wissen, einen Dithyrambos gedichtet, ihm diesen Namen gegeben und in Korinth vorgetragen.
Dieser Arion habe, so heißt es, den größten Teil seiner Zeit bei Periandros verbracht, dann aber den Wunsch verspürt, nach Unteritalien und Sizilien zu reisen; er habe, als er viel Geld verdient hatte, wieder nach Korinth zurückkehren wollen. Er sei also von Tarent aufgebrochen und habe ein Schiff mit korinthischer Besatzung gemietet, da er niemandem mehr Vertrauen schenkte als den Korinthern. Diese jedoch hätten auf See den hinterhältigen Plan gefasst, Arion über Bord zu werfen und somit in den Besitz seines Geldes zu kommen. Arion habe die Absicht der Leute erkannt und um Gnade gefleht, indem er ihnen sein Geld überlassen wollte, aber um sein Leben bat. Er habe sie freilich nicht dazu überreden können, vielmehr hätten die Seeleute ihm befohlen, entweder sich selbst zu töten, um eine Bestattung zu Lande zu erhalten, oder möglichst schnell ins Meer zu springen. Da sie es nun so wollten, habe Arion in seiner großen Not darum gebeten, ihm wenigstens zuzugestehen, in vollem Ornat auf der Ruderbank stehend zu singen. Nach seinem Gesang, so versprach er, werde er sich töten. Die Leute hätten sich gefreut, dass sie den besten Sänger unter den Menschen hören würden, und hätten sich vom Heck des Schiffes zur Mitte zurückgezogen. Arion aber habe seinen vollen Ornat angelegt, zur Kithara gegriffen, habe sich auf die Ruderbank gestellt, die Hohe Weise gesungen und sich nach dem Ende der Weise, so wie er war - in vollem Sängerschmuck -, ins Meer gestürzt. Die Seeleute seien nach Korinth gefahren, den Arion aber habe ein Delphin aufgegriffen und nach Tainaron gebracht. Er sei an Land gegangen, in seinem Ornat nach Korinth gekommen und habe nach seiner Ankunft die ganze Geschichte erzählt. Periandros aber habe Arion nicht geglaubt und ihn deshalb in Haft genommen, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, irgendwohin zu gehen; auf die Seeleute habe er ein Auge gehabt. Nach deren Ankunft habe er sie zu sich rufen lassen und nachgefragt, ob sie etwas über Arion berichten könnten. Jene hätten geantwortet, er befände sich heil und unversehrt in Unteritalien und sie hätten ihn wohlbehalten in Tarent zurückgelassen. Da aber habe sich Arion ihnen gezeigt, so wie er vom Schiff gesprungen war. Sie seien sehr erschrocken und hätten, da sie überführt waren, das Vorgefallene nicht mehr leugnen können. So erzählen es die Korinther und Lesbier, und von Arion steht in Tainaron eine nicht allzu große Weihegabe: ein auf einem Delphin reitender Mensch.
Herodot | Historien 1,23-24 | Übers.: Christine Ley-Hutton | Reclam, 2002

Man darf hier natürlich ein wenig skeptisch sein. So ist heute etwa nicht mehr sicher, ob der erwähnte Sänger mehr Realität oder mehr Mythos gewesen ist. Andererseits ist es sehr unwahrscheinlich, dass Erzählungen wie diese ohne wahren Hintergrund entstanden sind. Nein, wir dürften es hier tatsächlich mit dem ältesten bekannten Bericht über die Rettung eines Menschen durch einen Delphin zu tun haben. Auch wenn es sich vielleicht nicht exakt in der beschriebenen Weise zugetragen hat, so wird doch ersichtlich, dass bereits unsere Vorfahren vor gut zweieinhalbtausend Jahren mit dem hilfsbereiten Verhalten von Delphinen bestens vertraut gewesen sind. Genau das bezeugt auch ein Brief des über 400 Jahre nach Herodot lebenden Römers Plinius. Er beschreibt darin sogar noch erstaunlichere Dinge und pocht ausdrücklich darauf, dass sein Informant äußerst verlässlich sei. Übrigens, fast könnte man hier meinen, dass die Macher der Fernsehserie "Flipper" diesen uralten Bericht gelesen haben. Was durchaus denkbar ist, denn die Briefe des Plinius sind eine der eher bekannteren und bedeutenderen Schriftquellen der Antike. 

Plinius grüßt seinen Caninius!
Zufällig bin ich auf eine wahre Begebenheit gestoßen, die aber eher einer erfundenen gleicht und Deines überaus glücklichen, erhabenen und dichterischen Talentes würdig ist. Ich bin aber darauf gestoßen, als während einer Mahlzeit verschiedene Wundergeschichten aus aller Welt berichtet wurden. Der Erzähler ist höchst glaubwürdig; doch was fragt ein Dichter nach Glaubwürdigkeit? Trotzdem ist der Erzähler ein Mann, der Dein volles Vertrauen hätte, selbst wenn Du ein Geschichtswerk schreiben würdest.
In Afrika gibt es eine Kolonie Hippo, unmittelbar am Meer gelegen. Nahe dabei liegt eine schiffbare Lagune. Aus ihr führt nach Art eines Flusses ein Kanal zum Meer, der abwechselnd, je nachdem die Flut zurück- oder vorwärts drängt, sich bald ins Meer ergießt, bald wieder in die Lagune zurückläuft. Menschen jedes Alters halten sich hier aus Begeisterung fürs Fischen, Segeln und auch fürs Schwimmen auf, besonders die Jungen, die Muße und Spiel dorthin locken. Für sie bedeutet es Ruhm und Tapferkeit, möglichst weit hinauszuschwimmen. Sieger ist, wer das Ufer und seine Mitschwimmer am weitesten zurücklässt. Bei diesem Wettkampf wagte sich ein Junge, mutiger als die übrigen, ziemlich weit hinaus. Da begegnete ihm ein Delphin; bald schwamm er vor dem Jungen her, bald folgte er ihm, bald umkreiste er ihn, schließlich nahm er ihn auf seinen Rücken, setzte ihn ab, nahm ihn wieder auf seinen Rücken, trug den Zitternden erst aufs hohe Meer hinaus, kehrte dann wieder zur Küste um und brachte ihn wieder ans Land zu seinen Kameraden.
Die Nachricht verbreitete sich in der Siedlung; alle strömten zusammen, betrachteten den Jungen wie ein Wunder, befragten ihn, hörten ihm zu und erzählten es weiter. Am folgenden Tag belagerten sie das Ufer, schauten hinaus aufs Meer und was wie Meer aussah. Die Jungen schwammen, unter ihnen auch der erwähnte Junge, jedoch vorsichtiger. Der Delphin kam wieder zur gleichen Zeit, schwamm wieder auf den Jungen zu. Jener floh mit den übrigen. Der Delphin, als wollte er ihn einladen und zurückrufen, sprang empor, tauchte unter, zog verschiedene Kreise um ihn und entfernte sich.
Das geschah am zweiten Tag, das am dritten, das an den folgenden, bis die am Meer aufgewachsenen Jungen sich wegen ihrer Ängstlichkeit zu schämen begannen. Sie schwammen an ihn heran, spielten mit ihm, riefen ihn, berührten ihn auch und streichelten ihn; und er ließ es sich gefallen. Es wuchs die Kühnheit durch den Versuch. Besonders der Junge, der es als erster versucht hatte, schwamm heran, sprang auf seinen Rücken, wurde weg- und wieder zurückgetragen, glaubte, von ihm wiedererkannt und geliebt zu werden, und liebte ihn seinerseits; keiner fürchtete sich, keiner wurde gefürchtet. Das Vertrauen des Jungen und die Zutraulichkeit des Delphins wurden größer. Auch die anderen Jungen schwammen zugleich rechts und links, ermunterten sie und riefen ihnen zu. Zusammen mit ihm - auch das ist ein Wunder - schwamm noch ein anderer Delphin, jedoch nur als Zuschauer und Begleiter; denn er tat oder duldete nichts Ähnliches, sondern führte ihn nur hin und zurück, wie den Jungen die übrigen Jungen. Es ist unglaublich, doch so wahr wie das vorige, dass der Delphin, Reittier und Spielkamerad der Jungen, sich sogar öfter an Land ziehen und im Sand trocknen ließ und, wenn es ihm zu warm wurde, sich ins Meer zurückwälzte.
Es ist bekannt, dass Octavius Avitus, Legat des Statthalters, den an Land gezogenen Delphin aus törichtem Aberglauben mit Salböl übergoss; vor dem ungewohnten Geruch des Salböls floh er ins Meer und erschien erst viele Tage später wieder, aber geschwächt und traurig; nachdem er bald seine Kräfte wiedererlangt hatte, nahm er seine frühere Ausgelassenheit und seine gewohnten Dienste wieder auf. Zu diesem Schauspiel strömten alle Magistrate zusammen; ihre Ankunft und ihr Aufenthalt zerrüttete die kleine Gemeinde durch die neuen Kosten. Schließlich verlor der Ort selbst seine Ruhe und Abgeschiedenheit; man beschloss, den Grund für das Zusammenströmen der Leute heimlich zu beseitigen.
Mit wieviel Mitgefühl, mit welchem Wortreichtum wirst Du diese Begebenheit beweinen, ausschmücken und steigern! Freilich ist es nicht nötig, etwas hinzuzuerfinden oder beizufügen; es genügt, wenn die Wahrheit nicht beeinträchtigt wird. 
Lebe wohl! 
Plinius der Jüngere | Epistulae 9,33,1-11 | Übers.: H. Philips, M. Gibel | Reclam, 1998/2014

Das traurige Ende einer durchaus glaubwürdigen Erzählung. Den Rummel mussten schließlich alle Einwohner der nordafrikanischen Stadt Hippo Regius miterlebt haben. Oder nicht miterlebt haben, wenn es eine Erfindung gewesen wäre. Ein Lügner, der sich das alles nur ausgedacht hätte, wäre daher rasch aufgeflogen*. Außerdem deckt sich das Beschriebene mit dem auch uns bekannten Verhalten von Delphinen, die dem Menschen viel Zuneigung entgegenbringen, obwohl dieser das Vertrauen der Tiere leider immer wieder missbraucht - heute wie schon vor Jahrtausenden.


* Abschweifende Notiz am Rande: Die gleiche Überlegung legt auch die historische Existenz des Jesus von Nazareth sehr nahe. Ob es diesen Mann gegeben hat, war schließlich für Zeitgenossen relativ leicht in Jerusalem und in vielen seiner anderen Wirkungsstätten zu verifizieren/falsifizieren. Als das Christentum zum ersten Mal verlässlich in außerchristlichen/heidnisch-römischen Quellen greifbar wurde, lebten noch viele Zeugen, die, selbst wenn sie Jesus nicht persönlich gekannt hatten, doch von dem Aufruhr (plus Gerichtsprozess), den er in Jerusalem verursacht hatte, wissen mussten. Auch als ungefähr zur Mitte des 1. Jahrhunderts die ersten Evangelien entstanden, gab es noch entsprechende Augenzeugen. Ein erfundener Jesus wäre damals nicht aufrechtzuhalten gewesen. Hier hätte man als Betrüger völlig anders vorgehen müssen, nämlich indem man die körperliche Existenz des Jesus  zeitlich so weit zurücklegt, dass eine Nachprüfbarkeit unmöglich ist. Freilich, die behaupteten "Wunder", die Jesus vollbracht haben soll, sind eine ganz andere Geschichte. Die Verifikation von diesen war schon damals wesentlich schwieriger. Konnte man als Evangelienautor doch in der niedergeschriebenen Erzählung beispielsweise gezielt auf Personen zurückgreifen, die eventuell gar nicht mehr lebten und daher auch nicht mehr befragt werden konnten. So muss dieser Aspekt "Glaubenssache" bleiben.



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