Die diesjährige Bayerische Landesausstellung, die noch bis zum 3. November 2024 läuft, beschäftigt sich mit dem frühmittelalterlichen Bayern - einer durchaus spannenden Zeit, die viele Veränderungen mit sich brachte und über die einiges im Dunklen liegt. Im Verlag Friedrich Pustet ist nun unter dem Titel "Tassilo, Korbinian und der Bär - Bayern im Frühen Mittelalter" der Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung erschienen.
Das obligatorische, aber üblicherweise (zurecht) von fast niemandem gelesene Vorwort stammt aus der Feder eines typischen Polit-Unsympathlings, der - das haben besonders die vergangenen paar Jahre deutlich gezeigt - mit seriöser Wissenschaft in etwa so viel am Hut hat wie eine Kartenlegerin bei AstroTV. Erfreulicherweise wurden die eigentlichen Beiträge des Buchs von Geschichtswissenschaftlern verfasst. Darunter befinden sich so bekannte Namen wie Matthias Becher und so lange Namen wie Mechthild Schulze-Dörrlamm. Freilich, besonders in Zeiten wie diesen ist der Status eines sogenannten "Experten" längst kein 100prozentiger Qualitätsgarant mehr - doch dazu weiter unten anhand eines Beispiels mehr.
Die meisten der Essays und auch die mitunter sehr ausführlichen Katalog-Texte (Pettstadter Becher, Stiefelpaar aus dem Grab von St. Ulrich und Afra, usw.) sind allgemein verständlich formuliert. Was wichtig ist, da eine steuergeldfinanzierte Landesausstellung die gesamte Bevölkerung ansprechen soll, nicht nur eine Handvoll Geschichtswissenschaftler in ihrem Elfenbeinturm; das wird übrigens sinngemäß am Anfang des Begleitbandes sogar extra betont. Phasenweise wurde dieser Vorsatz allerdings von einigen Autoren wie dem Archäologen Egon Wamers ignoriert oder vergessen. Dementsprechend schlichen sich in ihren Ausführungen allzu schlaudeutsche Formulierungen ein. Ich weiß zwar, was beispielsweise "vernimbiert" bedeutet, aber geschätzte 99,9 Prozent der Bevölkerung nicht. Und dafür braucht sich auch niemand schämen. Sehr wohl schämen muss sich aber der Herausgeber, denn es wäre seine Aufgabe gewesen, in diesem und in ähnlichen Fällen einzugreifen, wenn schon der Autor selbst didaktisch versagt. Es wäre doch hinsichtlich des genannten Beispiels wirklich nicht so schwer gewesen, ersatzweise 'mit einem Heiligenschein versehen' zu schreiben.
Da es "DIE" Wissenschaft nicht gibt (Gegenteiliges behaupten oder insinuieren nur hinterfotzige Aktivisten und schlicht formatierte Parteipolitiker), wird im vorliegenden Buch auch nicht der Stand "DER" Wissenschaft wiedergegeben, sondern eher jene Theorien, die gerade in den einschlägigen Historikerzirkeln en vogue sind. Immerhin, man muss nicht einmal übermäßig zwischen den Zeilen lesen, um rasch zu bemerken, dass die Faktenlage hinsichtlich der behandelten Epoche äußerst dünn ist. Dieser Umstand wird auch immer wieder ganz offen eingestanden; gut so! Leider führen einige wenige Autoren gerade diese eher kritischen Punkte z.T. nicht in erschöpfender Weise aus. Siehe das folgende Beispiel. Anja Gairhos und Christian Later schreiben in ihrem (mehr oder weniger) "methodenkritischen" Essay folgendes:
Die Integration relativer Chronologiesysteme in eine absolute Chronologie erfolgt in der Archäologie des frühen Mittelalters vor allem über Münzen. Jahrgenau fassbare Grabfunde historisch bezeugter Personen, so die Bestattungen König Childerichs (gest. 481/82) oder der Königin Arnegundis (um 515/20-um 565/70) sind jedoch äußerst selten. Weitere Fixpunkte können auf den bereits angesprochenen naturwissenschaftlichen Wegen gewonnen werden. Hierzu gehören Daten, die sich mit Hilfe von Jahrringen der Bäume (Dendrochronologie) und mit der Radiocarbonmethode (14C-Datierung) ermitteln lassen. Auf diese Weise ist die Zeit von der Mitte des 5. Jahrhunderts bis um 700 vergleichsweise gut durch absolute chronologische Anhaltspunkte abgedeckt. Für das 8. Jahrhundert gibt es hingegen keine abgesicherten Daten. Archäologisch liegt der Grund darin, dass bereits im fortgeschrittenen 7. Jahrhundert die relative Chronologie mit Unsicherheiten behaftet ist. Wie erwähnt, führt ein Wandel im Bestattungsbrauch zu einer kontinuierlichen Anzahlabnahme der zeitlich justierbaren Gegenstände in den Gräbern. Absolute Datierungsmöglichkeiten fehlen oder erweisen sich als problematisch. Letzteres gilt vor allem für 14C-Daten. Der Zeitraum ab dem Ende des 7. Jahrhunderts bis ins ausgehende 8. Jahrhundert fällt in einen Plateaubereich mit Schwankungen der Kalibrierungskurve, was genauere zeitliche Eingrenzungen nicht erlaubt. S. 56 |
Ja was soll denn das im von mir fett markierten Teil konkret bedeuten? Was meint man mit "Plateaubereich"? Gab es damals in Organismen/organische Resten eine untypische Anreicherung mit Kohlenstoff-14-Isotopen durch irgend ein Naturereignis, wie man das auch von anderen Zeiträumen her kennt? Und was sind "Schwankungen der Kalibrierungskurve"? Wie bzw. mit was wurde überhaupt "kalibriert"? Mit Baumringdaten, die für die besagte Zeitspanne vielleicht nicht ausreichend zur Verfügung stehen?
Ich habe keinen Schimmer, was die zwei Autoren des Textes da herumorakeln! Aber bei einer dergestalt oberflächlichen Darlegung braucht man sich als Wissenschaftler nicht wundern, wenn einem ein Heribert Illig mit seiner These von der "Phantomzeit" bzw. dem "erfundenen Mittelalter" seit bald vierzig Jahren auf den Wecker geht...
Als eines der Positivbeispiele, die im Buch deutlich überwiegen, sei z.B. Roman Deutingers Text genannt, in dem sich der Autor mit dem Alltagsleben in sogenannter agilolfingischer Zeit (ca. 8. Jahrhundert) auseinandersetzt. Es wird darin u.a. sehr schön erläutert wie die Bayern dazumal lebten bzw. wie das Land, von dem sie sich ernährten, organisiert war. Die anhand von originalen Schriftquellen gebotenen Einblicke sind mitunter durchaus erhellend, trotz eigentlich eher düsterer Quellenlage. Gerade die sicher nicht unwichtige Frage, wie viele Bauern wirklich frei über ihren Besitz verfügen konnten ist bisher nicht befriedigend geklärt. Es soll, im krassen Gegensatz zum Hoch- und Spätmittelalter, aber eine nicht geringe Anzahl gewesen sein, meint man mit Verweis auf den Inhalt des Stammesrechts der Bayern - besser bekannt unter der Bezeichnung "Lex Baioariorum". Anmerkung: Der Verlag Friedrich Pustet hat vor einigen Jahren eine sehr gelungene Ausgabe davon veröffentlicht; für Frühmittelalter-Interessierte geradezu ein Muss! Auch im vorliegenden Begleitband der Landesausstellung begegnet man dieser wichtigen Quelle immer und immer wieder.
Religion war im Mittelalter bekanntlich von großer Bedeutung für die Menschen und prägte entsprechend ihr Leben. Daher kommt sie auch in den Essays relativ häufig vor, manchmal aber mit einem überraschenden Bezug zur Gegenwart. Wer hätte beispielsweise gedacht, dass die dazumal in gewisser Weise zur "weißen Magie" zählende Praktik des "Gesundbetens" bis heute immer noch - aber eher heimlich - von Geistlichen der katholischen und evangelischen Kirche betrieben wird? Mir war das völlig neu!
Fazit
Bayern im Frühen Mittelalter ist für mich grundsätzlich von einigem Interesse, nicht zuletzt deshalb, weil ich mit meiner Living-History-Ausstaffierung in genau diesem rund 500jährigen Zeitabschnitt unterwegs bin. Darüber hinaus war das heutige Österreich, wo ich bekanntlich lebe, bis ins späte Frühmittelalter hinein Teil des Stammesherzogtums Bayern. Von alamannischen Vorarlberg abgesehen, werden hierzulande immer noch verschiedene Formen des Bayerischen gesprochen. Der heutige Bayer hat demnach mit dem Österreicher sprachlich, historisch und natürlich kulturell wesentlich mehr gemeinsam als mit dem Bewohner des nördlichen Deutschlands. Aber eine Laune der Geschichte hat dazu geführt, dass der im Mittelalter plötzlich abgezwackte südliche Teil Bayerns ein eigener, souveräner Staat wurde, während der andere Teil nun ein Bundesland des größeren Deutschlands ist und vom 'preußischen' Berlin aus regiert wird. Welches der beiden Brüdervölker es schlussendlich besser getroffen hat ist Ansichtssache 😉.
Jedenfalls ist der vorliegende Begleitband zur Bayerischen Landesausstellung, von kleineren Kritikpunkten abgesehen, insgesamt durchaus gelungen. Es wurden von den Autoren einige interessante Themen aufgegriffen, manche davon sind geschickter verarbeitet worden als andere (wie das bei einer vielköpfigen Autorenschaft unvermeidlich ist). In den Essays erfährt der Leser dabei einiges über die politische und gesellschaftliche Situation im Herzogtum Bayern, vor allem während der Zeit des Herzogs Tassilo III. Neben dem Essayteil ist auch der Katalogteil sehr informativ und beinhaltet viele schöne, meist ausreichend große Abbildungen. Das Layout des Buchs ist recht übersichtlich und optisch ansprechend. Auch der Kaufpreis ist für den gebotenen Inhalt und die "Verpackung' (256 Seiten, Hard-Cover) mit rund 30 Euro absolut ok.
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Weiterführende Informationen:
Weitere interessante Themen:
Na das Buch werde ich mir gleich beim Buchhändler meines Vertrauens bestellen!
AntwortenLöschenDu rezensierst ja immer wieder mal was von Pustet, damit hast du mich auf den Verlag aufmerksam gemacht. Der hat einiges zum Thema bayerisches Frühmittelalter, was mich als Innviertler besonders interessiert. Leider wird diese Periode der Geschichte in Österreich kaum von Verlagen oder wenigstens vom ORF abgedeckt. Warum auch immer. Ich habe aber den Verdacht, dass man das als Bayerische Geschichte abtut, die zu wenig mit Österreich zu tun hat. Was sicher nicht stimmt.
L.Cilli
In dem Bereich tut sich tatsächlich vergleichsweise wenig. Mir kommt es auch wie eine Art Loch zwischen Römerzeit und der ersten urkundlichen Erwähnung 996 vor (Ostarrichi).
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