Der im 5. Jahrhundert vor Christus lebende griechische Geschichtsschreiber und Reiseschriftsteller Herodot von Halikarnassos hat mit seinem aus neun Büchern bestehenden Werk "Historien" (historíai) eine der bedeutendsten Schriftquellen über das Altertum verfasst. Der Text ist mit persönlichen Reiseerlebnissen, alten Überlieferungen und Anekdoten geradezu gespickt. Eine der besagten Anekdoten stammt aus Babylon. Diese Stadt am Euphrat, die das Zentrum eines gleichnamigen Reichs war, besaß bis in die Zeit Alexanders des Großen eine herausragende Bedeutung und war für ihre Pracht berühmt. Auch eines der sieben Weltwunder, die "Hängenden Gärten der Semiramis", sollen sich laut Herodot dort befunden haben. Doch in Babylon hingen in gewisser Weise nicht nur die Gärten, sondern auch eine tote Königin, und zwar über den Köpfen der Bewohner. Ihr Name soll Nitokris gewesen sein und Herodot weiß folgende Kuriosität über sie zu berichten:
Dieselbe Königin dachte sich auch noch folgende List aus: Über dem belebtesten Stadttor errichtete sie für sich ein Grabmal, unmittelbar über dem Tor; am Grab ließ sie folgende Inschrift anbringen: »Wenn einer derer, die nach mir Herrscher über Babylon werden, Geldmangel leiden sollte, dann soll er mein Grab öffnen und Geld nehmen, so viel er will. Keinesfalls freilich soll er, wenn er keine Not leidet, es öffnen, denn das wäre Dieses Grab blieb, bis das Reich an Dareios fiel, unberührt. Dareios aber schien es unerträglich zu sein, dieses Tor nicht benützen zu können, und das Geld, wo es doch bereitlag und die Inschrift dazu aufforderte, es nicht zu nehmen. Er benützte dieses Tor aber deshalb nicht, weil dann beim Durchschreiten der Leichnam über seinem Kopf wäre. Er ließ das Grab öffnen und fand zwar kein Geld, aber den Leichnam und folgende Inschrift: "Wärest du nicht unersättlich nach Geld und würdest du nicht nach schändlichem Gewinn trachten, würdest du nicht die Särge von Toten öffnen." So soll diese Königin also gewesen sein. Herodot | Historien Buch 1, 187,1 | Reclam |
Dareios dürfte sich hier, salopp formuliert, ganz schön verarscht vorgekommen sein. Ob aber nicht der Verdacht nahe liegt, dass die Einheimischen nur deshalb das Grab niemals zuvor hochoffiziell geöffnet hatten, weil sie die Inschrift schlicht und ergreifend nicht ernst genommen haben? Hatte vielleicht gar schon jemand einmal heimlich nachgesehen? Erst der aus dem Ausland daherkommende Perserkönig ging dann der längst verblichenen Königin Nitokris voll auf den Leim und blamierte sich in aller Öffentlichkeit.
Freilich, wenn man quellenkritisch ist, und das sollte man besonders bei uralten Anekdoten immer sein, dann muss die Möglichkeit eingeräumt werden, dass alles, aus heute unbekannten Gründen, frei erfunden oder zumindest aufgebauscht wurde. Weniger von Herodot, sondern eher von Einheimischen. Selbst die Existenz von Nitokris liegt nämlich ein wenig im Ungewissen. Egal, wir schmunzeln trotzdem und hoffen, dass die Erzählung wahr ist 😄.
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Anmerkung 1: Das berühmte Ischtar-Tor, welches als Rekonstruktion oben in der von mir gewählten Abbildung zu sehen ist, muss nicht das in der Überlieferung Herodots erwähnte Stadttor sein. Ich habe diesbezüglich keine Nachforschungen angestellt.
Anmerkung 2: Mich hat einmal jemand gefragt wie ich immer auf die vielen verschiedenen Themen für meine Blogbeiträge komme. Ganz einfach: Ich lese haufenweise Originalquellen und mache mir dazu etliche Notizen. Darauf greife ich dann später zurück. In diesem Fall war es allerdings ganz anders. Mir ist nämlich kürzlich in einem dieser öffentlich aufgestellten Bücherkisten in Graz der alte, aber ziemlich actionreiche Indiana-Jones-Roman "Das Labyrinth des Horus" von Wolfgang Hohlbein untergekommen. Darin spielt eine Textstelle in Herodots "Historien" eine zentrale Rolle. Das hat mich dazu bewogen, eben diese Textstelle hinsichtlich ihrer Authentizität zu überprüfen (ich bin halt manchmal ein Erbsenzähler). Und beim Blättern stieß ich dann zufällig auch auf die Anekdote mit der babylonischen Königin Nitokris und dem persischen König Dareios. Ein glücklicher Zufall. Aber nicht nur in dieser Hinsicht. Der besagte Indiana-Jones-Roman hat mir nämlich so gut gefalle, dass ich mir jetzt alle Bände zusammenkaufen werde, die von Hohlbein sind. Die Handlung von "Das Labyrinth des Horus" ist nicht gerade tiefschürfend, aber flott bzw. unterhaltsam geschrieben wie ein Film und ich bedaure es, dass davon keine Kino-Fassung produziert worden ist. Damals, in den 1980ern natürlich. Denn das heutige Hollywood könnte so eine klassische Abenteuerstory nicht mehr in ansprechender Weise filmisch realisieren. Das verhindert die dort vorherrschende ideologische Vernageltheit. Ein Indiana Jones, der beispielsweise einer attraktiven weiblichen Nervensäge einfach eine klebt, wäre da kaum denkbar. Das mag die moderne Feministin nämlich gar nicht. Die schaut sich lieber emanzipierende Meisterwerke wie "Fifty Shades of Grey" an, in denen die Frau von einem Kerl den Hintern versohlt bekommt.
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Ich schätze, die Babylonier hatten jede Menge Gründe, die Perser dumm dastehen zu lassen. Vielleicht versinnbildlicht die Geschichte, falls sie nicht stimmt, einfach die Gier der Eroberer.
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