Hiltibolds Rekonstruktion einer Thorsberghose. Übrigens: Niemand muss hier neidisch werden, denn getragen wird die Hose nicht von mir, sondern von einer Kleiderpuppe, die für das Foto vorne passend mit Socken ausgepolstert wurde. Wobei ich dabei vielleicht ein wenig übertrieben habe - das Endergebnis sieht ja fast wie Priapus aus 😁. |
Wer gemeint hat, dass mir die eher schlüpfrigen Themen mit antikem oder frühmittelalterlichem Bezug ausgehen, der muss sich an dieser Stelle eindeutig eines Besseren belehren lassen 😉. Bei der gewählten Überschrift dürften sich allerdings einige Leser fragend am Kopf (oder wahlweise auch am Hintern) kratzen. Hingegen Living-History- bzw. Reenactment-Hobbyisten, die mit ihrer Darstellung z.B. im Frühmittelalter unterwegs sind, werden zumindest wissen, was eine sogenannte "Thorsberghose" ist. Für alle anderen hier eine kurze Erklärung: Es handelt sich dabei um den archäologischen Fund einer vermutlich im späten 2. Jahrhundert angefertigten Hose, die im Thorsberger-Moor in Schleswig-Holstein entdeckt wurde. Aus Ermangelung an ähnlichen gut erhaltenen Hosenexemplaren wird sie von den meisten Germanen- sowie Frühmittelalterdarstellern als Vorlage für ihre eigenen Rekonstruktionen verwendet - und zwar unabhängig davon, ob man sich zeitlich in der Antike, der Spätantike, der Epoche der Merowinger, der Karolinger oder der Ottonen (wie ich) herumtreibt.
Und damit sind wir in gewisser Weise schon beim eigentlichen Thema dieses Textes angelangt: Sex, Beziehungsangelegenheiten und diverse Frauenprobleme im frühmittelalterlichen Stammesrecht der ersten Bayern - oder wie die in Latein verfasste Schrift eigentlich heißt: Der "Lex Baioariorum" bzw. "Lex Baiuvariorum" (nähere Infos zur verwendeten Ausgabe findet man in meiner Rezension).
Diese wahrscheinlich erstmals im 7./8. Jahrhundert niedergeschriebenen Gesetze der Baiuvaren - also der Vorfahren der heutigen Bayern und Österreicher (inkl. Südtiroler) - geben einen überaus interessanten Einblick in die Wertvorstellungen und in das Alltagsleben der damaligen Menschen. In der Überlieferung enthalten sind auffällig viele frauenspezifische 'Paragraphen'. Einige muten für den heutigen Leser ziemlich merkwürdig an, andere wiederum wirken fast schon modern, etwa wenn es um sexuelle Belästigung geht. Ich werde die betreffenden Textstellen hier vollständig zitieren, thematisch übersichtlich gruppieren und locker-flockig kommentieren. Außerdem erlaube ich mir zusätzliche Schriftquellen einzuflechten, die sich zwecks Übersichtlichkeit farblich absetzen.
VII. Über das Verbot unerlaubter Ehen
Vielleicht ist es unter den Lesern auch einigen schon so ergangen wie mir: Man steuert auf der Suche nach alten TV-Serien eine der meist auf ".to" oder ".in" endenden hochseriösen Streamingseiten an, nur um dann dort mit einer Popup-Hölle konfrontiert zu werden. Oft handelt es sich dabei um Werbung für Erwachsenenunterhaltung. "Incest is best", hat mir dabei einmal so ein unsagbar nerviges Overlay-Popup plötzlich auf den Bildschirm geschrieben. Ich musste wegen des blöden Wortspiels regelrecht loslachen. Gleichzeitig wurden darunter einschlägige Filmchen angepriesen, in denen angeblich step-mom, step-son, step-father und step-sister miteinander 'verkehren' würden. Natürlich alles nur in (vermutlich schlecht) geschauspielerter Form, aber selbst wenn es echt gewesen wäre, so könnte man hier nicht von Inzest sprechen. Zumindest nach der heutigen Definition des Begriffs wäre das unzutreffend. Wie allerdings das folgende Beispiel aus der Lex Baioariorum zeigt, waren die Maßstäbe im Frühmittelalter völlig andere und gingen weit über moderne Gesetze hinaus.
1. Inzestuöse Ehen sind verboten. Deshalb ist es nicht erlaubt, die Schwiegermutter, die Schwiegertochter, die Stieftochter, die Stiefmutter, die Tochter des Bruders, die Tochter der Schwester, die Frau des Bruders oder die Schwester der Frau zu heiraten. Die Kinder von Brüdern und die Kinder von Schwestern dürfen auf keinen Fall eine Verbindung eingehen. 2. Wenn jemand dem zuwider handelt, sollen sie von den örtlichen Richtern getrennt werden und das gesamte Vermögen verlieren, das an den Fiskus fällt. 3. Wenn es Personen von minderem Rang sind, die sich mit einer unerlaubten Verbindung befleckt haben, sollen sie die Freiheit verlieren und den Sklaven des Fiskus eingegliedert werden. [...] |
Erörternswert ist besonders die Frage, woher man den allgemeinen Bedarf für z.B. das Verbot der Ehe mit Schwiegertöchtern herleitete. Das wirkt doch ziemlich eigentümlich. Handelte es sich wirklich um ein Problem, welches eine gesetzliche Regelung verlangte? Schließlich besteht hier keine Blutsverwandtschaft. Fußt das Verbot stattdessen eher auf dem Alten Testament - wo das Thema in ähnlicher Form ebenfalls vorkommt? Oder haben wir es bei dem Verbot (auch) mit einer Reaktion auf negative Alltagserfahrungen zu tun? Ging es eventuell darum, zwischenmenschliche Spannungen in der Sippe zu vermeiden? Konnten solche Ehen etwa zu Erbstreitigkeiten führen? Vor allem aber wäre es wohl für andere Angehörige, die damals oft unter einem großen Dach zusammen mit dem Familienoberhaupt lebten, sehr gewöhnungsbedürftig, wenn sich eine mitunter viele Jahre andauernde platonische (Stief)Vater-(Stief)Tochter-Beziehung plötzlich in eine körperliche Beziehung/Ehe wandeln würde. Besonders dann wäre so etwas problematisch, wenn deshalb die ursprüngliche Ehe beendet wurde. Und auch wenn es nicht ganz einfach war (siehe weiter unten), so hätte doch manch Mann in Versuchung kommen können, seine nicht mehr ganz taufrische Frau gegen ein griffbereites jüngeres Modell aus dem eigenen Haushalt auszutauschen. Unfrieden ist in so einem Fall quasi vorprogrammiert. Da muss man nur Woody Allen fragen...
VIII. Über Frauen und Fälle, die häufig bei ihnen vorkommen
1. Wenn jemand mit der freien Frau eines anderen Verkehr hat: Wenn er dabei ertappt wird, soll er es dem Ehemann mit dem Wergeld der Frau büßen. Und wenn er im Bett mit ihr getötet wird, soll er wegen seines Verbrechens für das Bußgeld, das er ihrem Mann hätte zahlen müssen, ohne Vergeltung liegen bleiben. Und wenn er nur mit einem Fuß ins Bett gestiegen ist und von der Frau daran gehindert wurde, Weiteres zu tun, soll er mit zwölf Schillingen büßen, weil er unrecht-mäßig in ein fremdes Ehebett gestiegen ist. 2. Wenn ein Sklave dies tut und zusammen mit einer Freien im fremden Ehebett getötet wird, verringert sich durch diesen Schaden das Wergeld der Frau um zwanzig Schillinge. Was übrig bleibt, muss sein Herr aber bezahlen, bis die Bußgeldsumme für das Verbrechen abgetragen ist. Und wenn der Sklave entkommt und nicht getötet, aber des Vergehens überführt wird, soll sein Herr ihn für zwanzig Schillinge demjenigen ausliefern, dessen Frau er geschändet hat. Die übrige Summe muss er aber vollständig bezahlen, weil er seinen Sklaven nicht im Zaum gehalten hat. |
Man sollte nicht glauben, dass das straflose Töten eines Ehebrechers so richtig typisch für das 'primitive' Rechtsverständnis des Mittelalters ist. Denn schon Augustus hat im römischen Recht - konkret in der lex Iulia de adulteriis coercendis - dergleichen unter bestimmten Umständen ermöglicht.
Im Übrigen sind die oben erwähnten Geldstrafen aufgrund eines wahrscheinlichen Mangels an Münzgeld (dieses tritt nur sehr selten im archäologischen Fundgut in Erscheinung) von der dazumal fast ausschließlich auf dem Land lebenden Bevölkerung wohl meist nicht bar bezahlt worden, sondern eher in Form von gleichwertigen Waren wie Vieh. Für gut einen Schilling bekam man zur Zeit Karls des Großen eine Kuh. Daraus folgt, dass fast zwanzig Kühe bei einer Zwanzig-Schilling-Strafe abgeliefert werden mussten. So etwas wird die Möglichkeiten sehr vieler Verurteilter bei weitem übertroffen haben! Wir haben es hier demnach mit ruinösen Strafen zu tun; diesen Umstand sollte man auch bei allen nachfolgenden Beispielen im Hinterkopf behalten (wobei hier meiner Ansicht nach nicht völlig von wissenschaftlicher Seite geklärt ist, ob die Strafhöhe vom Richter wirklich immer voll ausgeschöpft werden musste; doch auf dieses Problem genauer einzugehen, würde an dieser Stelle zu weit führen).
Interessant ist hinsichtlich des Themas Ehebruch/Fremdgehen noch die Frage wie es im Frühmittelalter bei den Baiuvaren und in den angrenzenden germanisch besiedelten Gebieten um das Thema Prostitution bestellt war. Gegeben hat es diese bestimmt, allerdings darf man annehmen, dass sie verhältnismäßig wenig verbreitet war, da kaum ein Mensch in einer Stadt lebte und ein Dorf schlicht nicht die nötige Annonymität gewährleisten konnte. Was nicht heißt, dass sich die eine oder andere Frau selbst in diesem Umfeld nicht trotzdem für eine Gegenleistung gelegentlich 'besteigen' ließ. Sei es aus einer finanziellen Notlage heraus oder weil es schlicht ihrem Naturell entsprach. An dieser Stelle ist auch wieder einmal ein Vergleich mit dem Antiken Rom interessant. Dort war Prostitution zwar kein geachtetes Gewerbe, aber sie war als Einrichtung zur Triebabfuhr geduldet. Selbst der alte Moralprediger Cato d.Ä. betonte dies laut Horaz. Es sei, soll er gesagt haben, besser, ins Bordell zu gehen, als fremde Ehefrauen "durchzuwalken". 😄
3. Wenn jemand aus Lüsternheit Hand an eine Freie legt, sei es eine Jungfrau oder die Ehefrau eines anderen, was die Bayern "horcrift" nennen, büße er mit sechs Schillingen. 4. Wenn er ihr das Kleid über die Knie anhebt, was man "himilzorun" nennt, büße er mit zwölf Schillingen. 5. Wenn er ihr die Haarspange vom Kopf reißt, was man "walcwurf" nennt, oder einer Jungfrau aus Lüsternheit Haare vom Kopf reißt, büße er mit zwölf Schillingen |
Heute würde man dergleichen wahrscheinlich als Grapscher-Paragraph bezeichnen. Eine wichtige Frage ist hierbei freilich wie dazumal die Beweisführung aussah, wenn ein entsprechender Vorwurf erhoben wurde. Gab es nämlich keine Augenzeugen, so stand Aussage gegen Aussage. Eine Verurteilung war dann eigentlich nicht möglich. Erst der gegenwärtige neofeministisch geprägte 'Rechtsstaat' mit seinem gewaltigen medialen Vorverurteilungsapparat hat das Prinzip "in dubio pro reo" nachhaltig aufgeweicht, indem nun tendenziell den Aussagen der Frau mehr Glaubwürdigkeit eingeräumt wird als jenen des beschuldigten Mannes. Stichwort "metoo".
Erwähnenswert erscheint mir übrigens noch besonders Punkt 5. Anscheinend gab es bereits damals Haarfetischisten. Und bis heute frönen Menschen diesem merkwürdigen Vergnügen.
6. Wenn jemand eine Jungfrau gegen ihren eigenen Willen und den ihrer Verwandten entführt, büße er mit vierzig Schillingen, und weitere vierzig Schillinge muss er an den Fiskus bezahlen. 7. Wenn er aber eine Witwe entführt, die gezwungen ist, wegen not-wendiger Besorgungen für ihre Kinder oder für sich selbst das Haus zu verlassen, büße er mit achtzig Schillingen und muss vierzig an den Fis-kus [bezahlen], weil eine solche Vermessenheit verboten gehört und es an Gott, dem Herzog und den Richtern liegt, sie zu beschützen. |
Zu Punkt 7: Insgesamt 120 Schillinge Strafe ist immens. Das entspricht - zur Erinnerung - ungefähr dem Wert von 120 Kühen! Die Höhe des Bußgeldes zeigt aber, dass es als hochgradig asoziales Verhalten angesehen wurde, eine Mutter zu entführen, die zuhause für ihre Kinder zu sorgen hatte. Wobei die Formulierung schon etwas rätselhaft ist. Denn sie erweckt den Eindruck, als ob nur dann die Entführung strafbar ist, wenn die Mutter außerhalb ihres Hauses zum Entführungsopfer wurde, nicht aber, wenn sie beispielsweise direkt vom Herd weg eingepackt und mitgenommen worden ist. Es will mir nur schwer vorstellbar erscheinen, dass es sich in der Rechtssprechung wirklich so verhalten hat.
Ähnliches gilt für die unter Punkt 6 erwähnte Entführung einer Jungfrau: Wurde die Strafe nur dann fällig, wenn sie "gegen ihren eigenen Willen UND den ihrer Verwandten" entführt wurde? Will heißen, wenn sie selbst sich durchaus gerne von einen Liebhaber entführen ließ (also eigentlich mit ihm durchgebrannt ist), war dann keine Strafe fällig? Oder nur die Hälfte? Leider gibt die Lex Baioariorum dazu keine näheren Auskünfte. Jedoch darf man durchaus vermuten, dass die Gesetzesauslegung nicht immer sklavisch exakt gewesen sein muss.
8. Wenn jemand mit einer Freien mit ihrer Zustimmung Unzucht treibt, sie aber nicht heiraten will, büße er mit zwölf Schillingen, weil sie noch nicht verlobt oder von ihren Verwandten vergeben ist, sondern aus eigener Lüsternheit geschändet wurde. 9. Wenn ein Sklave mit einer Freien Unzucht treibt und das entdeckt wird, soll derjenige, dem der Sklave gehört, ihn ihren Verwandten aus-liefern, damit er die verdiente Strafe erleidet oder getötet wird; weiter muss er nichts bezahlen, weil eine solche Vermessenheit Feindschaft im Volk hervorruft. 10. Wenn jemand mit einer Freigelassenen, die man "frilazza" nennt und die einen Ehemann hat, Verkehr hat, büße er mit vierzig Schillingen den Verwandten, dem Herrn oder ihrem Ehemann. 11. Wenn jemand mit einer Jungfrau, die eine Freigelassene ist, Verkehr hat, büße er mit acht Schillingen den Verwandten oder dem Herrn. 12. Wenn jemand mit einer Sklavin eines anderen, die verheiratet ist, Verkehr hat, büße er dem Herrn mit zwanzig Schillingen. 13. Wenn jemand mit einer Sklavin, die Jungfrau ist, Verkehr hat, büße er mit vier Schillingen |
Zu Punkt 8: Die Formulierung "aus eigener Lüsternheit geschändet" ist schon drollig😀. Ganz allgemein lässt sich aus all diesen Verboten allerdings ablesen, dass man damals einen 'promiskutiven' Lebensstil nicht gut geheißen hat. Oder anders formuliert: Sich quer durchs Dorf zu vögeln galt nicht als sozial akzeptables Verhalten. Auch an dieser Stelle sei auf den römischen Geschichtsschreiber Tacitus verwiesen. Der berichtet - passend zum gegenständlichen Thema - über die Germanen seiner Zeit (um 100 n. Chr.) folgendes (Germania Buch XVIII-XIX, Verlag Anaconda):
Trotzdem hat man bei ihnen von der Ehe eine strenge Auffassung, und es gibt keine Seite ihres sittlichen Lebens, die man mehr rühmen könnte. Denn sie sind fast allein von allen fremden Völkern mit einer einzigen Frau zufrieden; nur sehr wenige bilden eine Ausnahme, die sich indessen nicht aus Sinnlichkeit, sondern wegen ihrer adligen Stellung mehrfach mit Heiratsanträgen umwerben lassen. [...] So leben die Frauen in wohlbehüteter Keuschheit, ohne durch die Verlockungen von Schauspielen oder die Reizungen von Gelagen verdorben zu werden. Geheimen Briefwechsel kennen die Männer sowenig wie die Frauen. So zahlreich die Menschen in diesem Volke sind, so vereinzelt kommt es zu einem Ehebruch; die Strafe dafür wird augenblicklich vollzogen und steht dem Gatten zu: entblößt, mit abgeschnittenem Haar jagt sie der Mann im Beisein der Verwandten aus dem Hause und treibt sie unter Peitschenhieben durch das ganze Dorf. Für Preisgabe der Frauenehre gibt es nämlich keine Verzeihung: eine Ehebrecherin findet keinen Mann wieder, und wenn sie noch so schön, so jung oder so reich wäre. Denn niemand belächelt dort Laster, und verführen und sich verführen lassen gilt nicht als Geist der Zeit. Besser noch steht es um die Stämme, bei denen überhaupt nur die Jungfrauen heiraten und es mit der einmaligen Aussicht auf Verehelichung sein Bewenden hat. So bekommen sie einen Gatten, wie sie ja auch nur einen Körper und ein Leben empfangen haben, damit kein Gedanke über seinen Tod hinaus in ihnen aufkeimt, kein Verlangen diesen Zeitpunkt überdaure, damit sie gleichsam nicht ihren Mann, sondern die Ehe [als den Weg zur Mutterschaft] lieben. |
Das sind zwar 'schöne' Worte, aber wie die Realität ausgesehen hat, wissen wir heute nicht mehr. Und selbst Tacitus dürfte nur eine vage Vorstellung davon gehabt haben, war sein Blick auf die Germanen doch einer von außen. Moderne Forscher unterstellen ihm sogar, er habe die Germanen in moralischer bzw. sittlicher Hinsicht absichtlich hochgepumpt, um sie als Gegenkonzept zu den Römern zu positionieren. Deren Lebensstil hat Tacitus nämlich tatsächlich als zunehmend degeneriert empfunden. Wobei er hier wahrscheinlich in erster Linie an seine Standesgenossen der Oberschicht dachte.
Sich einfach scheiden zu lassen war in der baiuvarischen Gesellschaft nicht vorgesehen. Das spiegelt sich in der Lex Baioariorum ebenfall wieder.
14. Wenn ein Freier seine freie Frau ohne ein Verschulden ihrerseits aus Böswilligkeit verlässt, büße er den Verwandten mit 48 Schillingen. Der Frau aber soll er ihre Ehegabe entsprechend ihrem Stand auszahlen. Und alles, was sie aus dem Vermögen ihrer Eltern mitgebracht hat, soll der Frau zurückgegeben werden. 15. Wenn ein Freier, nachdem er sich mit der freien Tochter eines anderen förmlich und rechtmäßig verlobt hat, sie verlässt und rechtswidrig eine andere heiratet, büße er den Verwandten mit 24 Schillingen und schwöre mit zwölf Eideshelfern, die er aus seiner Verwandtschaft benannt hat, dass er sie nicht aus Böswilligkeit gegenüber ihren Verwandten oder wegen irgendeines Vergehens ihrerseits verlassen hat, sondern die andere aus Liebe geheiratet hat; damit sei die Sache zwischen ihnen erledigt, und danach kann man seine Tochter geben, wem man will. |
Von dieser Regelung haben Frauen enorm profitiert. Man darf freilich aufgrund der gewählten Formulierung annehmen, dass es hier nicht bloß um die Ehre und das Ansehen der Frau ging, sondern zu einem guten Teil auch um materielle Erwägungen. Denn wenn die Frau verlassen worden war, wird sie in den meisten Fällen zu ihrer ursprünglichen Familie, also jener, der sie entstammte, zurückgekehrt sein. Diese hatte nun ein weiteres Maul zu stopfen. Möglicherweise bis zum Tod der Frau, wenn sie nämlich nicht mehr knackig und deshalb auf dem Heiratsmarkt unvermittelbar war. Das war sicher kein wünschenswertes Szenario, schon gar nicht in einer Zeit, in der viele Bauernfamilien nicht über die Möglichkeiten verfügten, großen Nahrungsmittel-Überschüsse zu produzieren.
16. Wenn jemand die Verlobte eines anderen entführt oder sie zur Heirat überredet, soll er sie zurückgeben und mit achtzig Schillingen büßen. 17. Wenn jemand einer freien Frau verspricht, sie zu heiraten, und sie dann unterwegs verlässt, was die Bayern "wancstodal" nennen, büße er mit zwölf Schillingen. |
Das Entführen von Jungfrauen (siehe weiter oben Punkt 6) und hier von Verlobten dürfte im germanischen Kulturkreis eine sehr lange Tradition gehabt haben. Denn schon Arminius der Cherusker soll so an seine spätere Frau Thusnelda gelangt sein. Tacitus schreibt darüber folgendes (Annalen Buch I, 55,3 | in "Varus, Varus!", Verlag Reclam).
Aber das Schicksal und die Macht des Arminius brachten Varus zu Fall. Segestes wurde zwar durch die einmütige Erhebung des Volkes in den Krieg hineingezogen, aber er stand ihm innerlich ablehnend gegenüber. Auch wuchs sein Hass, weil Arminius seine Tochter, die mit einem anderen verlobt war, entführt hatte. Arminius war der gehasste Schwiegersohn eines Schwiegervaters, der ihn als seinen persönlichen Feind betrachtete. Und was sonst in einem einträchtigen Verhältnis ein Band der Liebe, das war bei der gegenseitigen Erbitterung Zündstoff zum Hass. |
Freilich, auch solche Entführungen von Frauen waren keine rein germanische Eigenheit. Zumindest bei den frühen Römern kam dergleichen wohl ebenfalls vor: Darauf deutet der Mythos vom "Raub der Sabinerinnen" hin.
Auch Abtreibung war im Frühmittelalter schon ein Thema, mit dem sich der Gesetzgeber beschäftigte.
18. Wenn eine Frau ein Abtreibungsmittel verabreicht: Wenn es eine Sklavin ist, soll sie 200 Geißelhiebe erhalten; wenn es eine Freie ist, soll sie die Freiheit verlieren und einem, den der Herzog bestimmt, als Sklavin zugewiesen werden. |
Dabei handelt es sich um extrem harte Strafen. Die Freiheit zu verlieren und zukünftig als Sklave sein Dasein fristen zu müssen galt als außerordentliche Schande. So jemand wurde aus seinem Familienverband herausgerissen und vermutlich möglichst weit weg in die Fremde verkauft. 200 Geißelhiebe wiederum konnten zum Tod führen, vor allem bei einer Frau (Jahrhunderte Später konnten selbst hartgesottene Seeleute in der englischen Kriegsmarine eine dermaßen extreme Prügelstrafe oft nicht wegstecken). Und man muss aufgrund der historischen Überlieferung davon ausgehen, dass es tatsächlich vor allem Frauen waren, die sich mit den einschlägigen Pflanzen besonders gut auskannten und als "Engelmacher" tätig gewesen sind.
Wer nun aber meint, das Abtreibungsverbot bei den Baiuvaren habe doch bestimmt nur mit der Christianisierung der Germanen in der Spätantike und dem Frühmittelalter zu tun, der irrt. Denn schon in der oben bereits erwähnten "Germania" von Tacitus (Buch XIX, Verlag Anaconda) heißt es:
Die Geburtenzahl zu beschränken oder ein nachgeborenes Kind zu töten gilt als Schande, und die gesunden sittlichen Anschauungen wirken bei den Germanen stärker als anderswo gute Gesetze. |
Auch für wohl meist nicht gezielt herbeigeführte Schwangerschaftsabbrüche gab es in der Lex Baiovariorum entsprechende Strafen, wie die folgenden Punkte verdeutlichen.
19. Wenn jemand bei einer Frau durch einen Hieb eine Fehlgeburt verursacht: Wenn die Frau stirbt, haftet er wie ein Totschläger. Wenn nur der Fötus getötet wird: Wenn der Fötus noch nicht lebensfähig war, büße man mit zwanzig Schillingen. Wenn er aber schon lebensfähig war, soll man eine Langzeitbuße bezahlen. 20. Wenn man eine Fehlgeburt verursacht, muss man zunächst zwölf Schillinge bezahlen, dann man selbst und seine Nachkommen jedes Jahr im Herbst einen Schilling zahlen, bis zur siebten Generation, jeweils vom Vater auf die Söhne. Und wenn sie es in einem Jahr vergessen, dann müssen sie erneut zwölf Schillinge zahlen, und dann soll man in der beschriebenen Weise verfahren, bis die Rechnung erfüllt ist. 21. Deshalb haben unsere Vorgänger und die Richter eine so lang andauernde Buße angeordnet, seit die christliche Religion sich in der Welt verbreitet hat, weil die Seele, sobald sie Fleisch geworden ist, auch dann, wenn sie noch gar nicht das Licht der Welt erblickt hat, eine lang andauernde Strafe erleidet, weil sie ohne das Sakrament der Taufe durch die Abtreibung der Hölle ausgeliefert wurde. 22. Wenn aber eine Sklavin von irgendeiner Person so misshandelt wird, dass sie eine Fehlgeburt hat: Wenn es noch nicht lebensfähig war, soll man mit vier Schillingen büßen. 23. Wenn es aber schon lebensfähig [war], soll man zehn Schillinge büßen; dem Herrn der Sklavin soll der Schaden ersetzt werden. |
Im lateinischen Originaltext ist nicht von Foetus/Fötus die Rede, sondern von "partus" - was in so einem Zusammenhang gemeinhin mit Leibesfrucht übersetzt wird. Wobei sich mir die Frage stellt, ob hier in etymologischer Hinsicht ein Zusammenhang mit dem ebenfalls lateinischen Wort "pars" (=Teil) besteht; etwa weil man das Ungeborene noch als Teil der Mutter ansah?
Sehr interessant, um nicht zu sagen äußerst kurios, ist die unter Punkt 20 angeführte Strafe, welche über sieben Generationen hinweg gezahlt werden musste! Sie ist also regelrecht vererbt worden. Die Überlegung, die hier dahinter steckt ist eventuell leicht zu erraten; wurde doch durch die Tötung des ungeborenen Kindes verhindert, dass dieses sich später selbst fortpflanzen und den Stammbaum seiner Familie um einen Ast erweitern konnte. Was damals, als der Nachwuchs für die Versorgung der Eltern im Alter zuständig war, keine Kleinigkeit gewesen ist. Für einen generationenübergreifenden Schaden wurde entsprechend eine generationenübergreifende Strafe verhängt. Aber warum gleich sieben Generationen lang? Ist das nicht völlig übertrieben? Eventuell wird man bei der Beantwortung dieser Frage in der Bibel fündig. Erstens ist sieben eine dieser göttlichen Zahlen, die dort in allen möglichen Zusammenhängen vorkommt. Und zweitens werden im Alten Testament generationenübergreifende Flüche, die letztendlich auch nichts anderes als Strafen waren, erwähnt. Nur dass sie von Gott ausgesprochen wurden, anstatt von weltlichen Richtern wie bei den frühmittelalterlichen Baiuvaren.
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Danke für den erhellenden Text, davon ist mir auch als FMA Darsteller einiges noch nicht bekannt gewesen.
AntwortenLöschenIch habe allerdings schon immer vermutet, dass die Elastizität von Tuchen in Fischgratbindung, aus der auch deine Hose ist, von Vorteil sein kann 😉.
Gero
q.e.d. !
LöschenIch tippe bei diesem umfangreichen Inczest-Eheverbot auf das AT als Ursache. Darauf berufen sich auch spätere Kleriker nämlich in vielen Streitpunkten. Aber kann es nicht sein, dass die sozialen Gründe, die du genannt hast, nicht auch schon bei den Juden dafür verantwortlich waren? Das wäre eine spannende Frage, weil vieles, was man als gottgegeben interpretiert hat, hat oft ganz profane Gründe gehabt.
AntwortenLöschenNatürlich, diese "profanen Gründe" dürfte man schon bei den Erfindern der jüdischen Religion entdecken können - oder sogar noch wesentlich früher bei jenen Kulturen, deren Gepflogenheiten den Verfassern des Alten Testaments teilweise als Vorbild dienten.
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