Mittwoch, 13. Dezember 2017

Intrigenstadl Troja-Forschung: Ein Interview mit dem Geoarchäologen Eberhard Zangger



Wissenschaft wird der Öffentlichkeit gerne als etwas absolut Selbstloses und Edles verkauft. Überspitzt formuliert könnte man sogar sagen: Der Wissenschaftler hat bei uns in den letzten Jahrhunderten den Priester sukzessive als moralischen Kompass und Verkünder der einzigen Wahrheit abgelöst. Von den Medien gerne gebrauchte Formulierungen wie "Wissenschaftler haben herausgefunden ... " oder "Laut einer Studie ..." fordern Rezipienten unterbewusst dazu auf, das Gesagte mindestens so lange für wahr zu halten, bis ein anderer Wissenschaftler oder eine andere Studie das Gegenteil behauptet. 
Problematisch daran ist nicht nur, dass die Religiosität der Massen einfach durch blinde Wissenschaftsgläubigkeit ersetzt wurde. Vielmehr führen auch charakterliche Mängel und die Einbindung in ein meritokratisches System bei manch einem Wissenschaftler dazu, dass er schlichtweg kein Interesse daran hat, wenn seine Forschungsarbeit vor aller Augen von Fachkollegen falsifiziert oder auch nur relativiert wird. Intrigen, Machtmissbrauch und Mobbing sind die Folge.
Anschaulich dargelegt werden diese Mechanismen im kürzlich erschienenen Buch "Die Luwier und der Trojanische Krieg". Nicht zuletzt anhand eigener Erfahrungen dokumentiert der Geoarchäologe Eberhard Zangger, wie ideenreichen Querdenkern in der Troja- und Luwier-Forschung von Kollegen, Vorgesetzten und vermeintlichen Autoritäten seit bald 200 Jahren ein Bein nach dem anderen gestellt wird, um ein paar wackelige, als 'settled science' verkaufte Dogmen zu schützen.
Zwar bestreitet heute niemand mehr die Existenz der in West-Kleinasien beheimateten Luwier - ein Volk, das in der mittleren und späten Bronzezeit wohl auch die Landschaft um das legendäre Troja besiedelte. Allerdings gehen die Meinungen bezüglich ihres historischen Einflusses mitunter deutlich auseinander. So vertritt beispielsweise Eberhard Zangger die Ansicht, dass die Luwier überwiegend mit den legendären "Seevölkern" identisch sind, die um 1200 v. Chr. für großflächige Verwüstungen weiter Landstriche im östlichen Mittelmeerraum verantwortlich gewesen sein dürften. Ein Vorgang, der manch eine Hochkultur - wie etwa die der Hethiter - ins Verderben stürzte; andere - wie das pharaonische Ägypten - konnten nur aufgrund allergrößter militärischer Kraftanstrengungen überleben. Ähnlich den spätantiken Völkerwanderungen mündeten diese Verwerfungen vielerorts in eine Art vorgeschichtliches Mittelalter ("Dark Ages"), in dem die Bevölkerung sich wieder verstärkt einer bäuerlichen Lebensweise zuwandte, die Schriftkultur (Linear-B-Schrift) erlosch und man aus Unwissenheit meinte, nur Riesen (Zyklopen) wären in der Lage gewesen, die beeindruckenden, aber mittlerweile verfallenen Palastanlagen der Vorfahren zu errichten. Bald nach Ende dieser mehrere Jahrhunderte andauernden Periode der 'Finsternis' verfasste Homer die Ilias und die Odyssee, in deren Handlungskulisse das Echo der untergegangenen Hochkulturen aus 'heroischer Zeit' noch unverkennbar nachhallt. Demzufolge könnte der vor allem in der Ilias beschriebene Kampf zwischen einem griechischen und einem trojanischen Staaten-Bündnis auf einer tatsächlichen militärischen Auseinandersetzung zwischen dem mykenischen und dem luwischen Kulturkreis beruhen. Ob es aber tatsächlich mykenische Griechen waren, die das bronzezeitliche Troja um 1200 v. Chr. endgültig zerstörten, ist keinesfalls sicher...

Die luwischen Kleinstaaten (rot) zwischen dem mykenischen Griechenland und dem hethitischen Zentralkleinasien. Man beachte besonders den Kleinstaat Wilusa, in dem das legendäre Troja lag; die Bezeichnung von Homers Ilias könnte sich davon ableiten. Quelle der Karte: luwianstudies.org | Zum Vergrößern auf das Bild klicken



Lieber Herr Zangger, nachdem Sie geraume Zeit erfolgreich als Geoarchäologe in Griechenland tätig waren, wandten Sie sich in den 1990ern zunehmend den etwas mysteriösen Luwiern sowie dem bronzezeitlichen Troja zu. War Ihnen bewusst, dass Sie damit in die Fußstapfen von gar nicht einmal so wenigen Wissenschaftlern traten, denen die Beschäftigung mit diesen Themen einiges an Ärger, Frust und wenig Wohlwollen seitens der arrivierten Forschung einbrachte?
Nein, ganz und gar nicht. Das habe ich erst nach und nach gemerkt. Auffällig war allerdings von vorherein, dass es in Westkleinasien sehr viele große bronzezeitliche Siedlungsplätze gibt – inzwischen kennen wir rund 400 –, aber so gut wie keine Ausgrabungen europäischer Archäologen. Die prominenten Grabungen sind und bleiben Troja und Beycesultan im Westen sowie Hattuša in Zentralkleinasien. Wobei die Initiatoren dieser Projekte in die Wüste geschickt wurden (Schliemann und Mellaart) bzw. früh verstarben (Winckler) und allesamt bis heute verrufen sind. Das war allgemein bekannt. Natürlich stieß ich auch früh auf Forscher wie Emil Forrer, Helmuth Bossert und Fred Woudhuizen. Allerdings besteht bei Literaturrecherchen zunächst die Gefahr, selbst von dem latent abwertenden Urteil über die Vorleistungen solcher Pioniere angesteckt zu werden. Nie bin ich auf eine Quelle gestoßen, in der sich ein Forscher positiv über Hugo Winckler geäußert hätte. Als ich mich in den letzten Jahren mit Wincklers Erkenntnissen beschäftigte, erkannte ich jedoch, wie weit er seiner Zeit voraus war. Erst dadurch kam ich auf die Idee, dass hinter dem, was man über diese Forscher liest, anfänglich auch eine gezielte Rufschädigung gestanden haben könnte. Letztlich hatte ich ja so etwas selbst erlebt. 

In Ihrem aktuellen Buch beschreiben Sie den mittlerweile verstorbenen Chefausgräber von Troja, Manfred Korfmann, als Ihren größten wissenschaftlichen Gegner. Dabei scheint er Ihnen anfangs sogar wohlgesinnt gewesen zu sein. Was an Ihrer Forschung hat ihn denn so nachhaltig gestört?
Ich war und bin der Meinung, dass Manfred Korfmann falsch an die Untersuchung von Troja heranging. Das hatte möglicherweise zunächst einen einfachen Grund: Jede namhafte archäologische Fundstätte ist eingezäunt. Innerhalb des Zaunes können die Ausgräber tun und lassen, was sie möchten, solange sie sich dabei an die Gesetze halten. Außerhalb des Zaunes sieht die Sache anders aus. Um dort zu graben, müssten zunächst Grundstücke erworben werden, außerdem sind ausdrückliche Grabungsgenehmigungen erforderlich. In Troja kommt erschwerend hinzu, dass der Grundwasserspiegel in der Talaue vermutlich in etwa 2 Meter Tiefe liegt. Meiner Überzeugung nach würden sich dort auch die Schichten mit den Ruinen der Unterstadt finden – aber in 5 bis 7 Meter Tiefe. Das heißt, Archäologen, die außerhalb der abgezäunten Fundstätte in der Talaue nach Resten der eigentlichen Stadt suchen wollten, müssten zunächst den Grundwasserspiegel künstlich absenken, was natürlich machbar ist, aber einigen Aufwand bedeutet. Dann sind die obersten 5 Meter sterile, also artefaktfreie Flussablagerungen. Diese müssten mit Baggern und Planierraupen abgetragen werden. Bagger und Planierraupen in Troja! Was würde das für eine Aufregung auslösen? Also suchen die Ausgräber – nicht nur Korfmann – dort weiter, wo es problemlos möglich ist, wo es aber leider kaum noch etwas zu finden gibt: innerhalb der abgegrenzten Fundstätte, also auf dem Burghügel. Dort haben ihre Vorgänger allerdings längst alle spätbronzezeitlichen Schichten abgetragen. – Die Konsequenzen einer pragmatischen, strikt naturwissenschaftlichen Herangehensweise können also durchaus unangenehm sein. Insofern ist es nachvollziehbar, dass sich Manfred Korfmann durch meine Thesen gestört fühlte. 

Zum Teil erinnern die Intrigen, die gegen Sie initiiert wurden, ein bisschen an einen Agentenfilm. Etwa wenn Sie beschreiben, wie ein anonymer Anrufer Sie vor der Teilnahme an einer universitären Diskussionsveranstaltung warnt, da ihre Gegner planten, diese in eine Art Tribunal gegen Sie umzuwandeln. 
'Wissenschaftler', die sich solcher Methoden bedienen, scheinen kein rechtes Vertrauen in die Überzeugungskraft der eigenen Argumente zu haben.
Sie sprechen ein großes Wort gelassen aus. Leute außerhalb des Universitätssystems haben oft eine idealisierte Vorstellung von Wissenschaft: Sie denken, es gehe um Forschung und Innovation, um neue Ideen, Kritik und Dialog. Forscher seien ihrer Zeit voraus und stets an Neuem interessiert. In dieser idealen Welt läuft Wissenschaft rational ab; letztlich obsiegen Evidenzen und gute Argumente. Das kann durchaus zutreffen, scheint aber eher die Ausnahme zu sein. Meine Erfahrungen stellen jedenfalls diesen Idealfall in Frage. Die Abläufe, denen ich begegne, ähneln denen, die Thomas Kuhn in «Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen» beschreibt. Demnach funktioniert Wissenschaft oft so, dass sich Forscher schon früh einem Paradigma unterwerfen. Dieses gibt vor, welche Fragen sinnvoll sind und welche Methoden zur Problemlösung akzeptiert werden. Unter diesem Paradigma wird fortan operiert. Kuhn nennt das die normalwissenschaftliche Phase. 
Wenn das Paradigma einmal etabliert ist, entstehen sogenannte Schulen, die sich darauf ausrichten und dabei auch gewisse prinzipielle Fragen ausblenden. Es werden Resultate produziert, ohne dass es eine Diskussion über die Grundlagen gibt. So entsteht Fortschritt. Allerdings ist jedes Paradigma beschränkt: Irgendwann ist alles gemacht, was gemacht werden kann; alle Fragen sind gestellt, die innerhalb des Paradigmas gestellt werden dürfen. An den Grenzen des Wissens treten dann vermehrt Fragen auf, die nicht beantwortet werden können, die einfach zur Seite geschoben worden waren. Irgendwann kommt der Moment, wo man diese Fragen nicht mehr ignorieren kann. 
Häufig waren es Außenseiter oder ganz junge Wissenschaftler, die sich solchen Fragen widmeten. Dabei entstehen neue methodologische Ansätze, die letztlich zu dem führen, was Kuhn wissenschaftliche Revolution nennt.
Oft ist die argumentative Auseinandersetzung zwischen den Verfechtern der bestehenden Paradigmen und denen einer neuen Denkrichtung nur ein Ablenkungsmanöver. Eigentlich dreht sich alles um die Fragen: Passt die neue These in mein Weltbild? Nützt sie meiner Karriere? Wenn Naturwissenschaftler feststellen, dass ihre Hypothesen nicht mit der Realität übereinstimmen, passen sie die Hypothesen an. Wenn Archäologen feststellen, dass ihre Hypothesen nicht mit der Realität übereinstimmen, passen sie die Realität an. 

Welche Bedeutung haben Ihrer Ansicht nach Medien beim Mobbing von Forschern mit nicht völlig Mainstream-konformen Thesen? Interessanterweise sind ja relativ viele Journalisten 'gescheiterte' Historiker/Geisteswissenschaftler, die nach dem Studium keine Anstellung im Wissenschaftsbetrieb gefunden haben. Kann es sein, dass gerade solche Leute - aufgrund ihrer Sozialisierung im meritokratisch-hierarchischen Universitätsbetrieb - überdurchschnittlich stark autoritätsgläubig sind und deshalb beispielsweise eher dazu neigen, einem Grabungsleiter mehr Hirn zuzubilligen, als einem Quereinsteiger? 
Meiner Erfahrung nach ist eher das Gegenteil der Fall. Ich persönlich habe keine Veranlassung, über mangelnde Courage der Journalisten oder eine wenig wohlwollende Berichterstattung zu klagen. Von meinem ersten Buch im Jahr 1992 bis heute bin ich von der großen Resonanz überrascht, die meine Thesen in den Medien bekommen. Das könnte im Einzelfall auch damit zu tun haben, dass manche Journalisten selbst vom Universitätsbetrieb enttäuscht worden sind. Ich hoffe aber, dass es vor allem an der Überzeugungskraft der Argumente und deren sorgfältiger Aufbereitung liegt. Auffällig ist allerdings, dass die populärwissenschaftlichen Zeitschriften in Deutschland und in der Türkei, wenn überhaupt, nur abfällig über meine Arbeiten berichten. Wenn man das auf die Präsenz meiner Kritiker in den offiziellen oder inoffiziellen Beratergremien dieser Zeitschriften zurückführen möchte, wüsste ich nicht, was ich dem entgegenhalten sollte. 

Nachdem Ihr Vorhaben sabotiert wurde, die Landschaft um Troja mittels Hubschrauber zu prospektieren, hatten Sie endgültig die Nase voll und stellten Ihre Tätigkeit als Wissenschaftler (vorübergehend) ein. Sie waren damals allerdings nicht der Einzige, gegen den massiv intrigiert wurde. Ein anderer bekannter Name ist Frank Kolb. Der streitbare Althistoriker warf Korfmann öffentlichkeitswirksam vor, er habe archäologische Befunde in Troja quasi herbeihalluziniert. Bestand demnach für den massiv in die Kritik geratenen Chef-Ausgräber die Gefahr, dass speziell Ihre Untersuchungen diese Vorwürfe bestätigen? War ihm deshalb so sehr daran gelegen, Ihr Vorhaben abzuwürgen? Er soll ja Entscheidungsträger regelrecht angefleht haben, Sie zu stoppen ...
Korfmann geriet in eine Zwickmühle: Ich behauptete, Troja sei sehr viel grösser und einflussreicher gewesen, als man bisher meinte; Kolb sagte das Gegenteil. Was auch immer Korfmann herausgefunden hätte, wäre Wasser auf die Mühlen eines seiner Gegenspieler gewesen. – Ursache des Problems war meines Erachtens eine Haltungsfrage: Korfmann sah sich als Besitzer des Interpretationsmonopols in Sachen Troja. Der Archäologe folgte da einem Gesellschaftsmodell des 19. Jahrhunderts. Demnach sind die Ausgräber Alleinherrscher über eine Fundstätte. Sie bestimmen, wer welches Material bearbeiten und wer welche Standpunkte vertreten darf. Korfmann – und wir alle – hätte davon profitiert, wenn er sich stattdessen als Moderator eines Dialogs verstanden hätte. Frank Kolb und ich hätten diametral entgegengesetzte Standpunkte eingenommen. So, wie die Dinge lagen, begannen wir aber sogar Sympathien füreinander zu entwickeln, weil wir uns darin einig sind, dass man Wissenschaft nicht so wie Korfmann betreiben darf. 

Wie schätzen Sie den derzeitigen Grabungsleiter von Troja, den Türken Rüstem Aslan, ein? Hat sich unter ihm die Situation für Ihre Forschungsarbeit gebessert? 
Ich habe Rüstem Aslan nie getroffen, obwohl ich den Kontakt suchte. Ich habe ihm angeboten, ihn zu besuchen, damit wir uns kennenlernen und unsere Standpunkte austauschen können. Er war daran jedoch nicht interessiert. Rüstem Aslan war Doktorand bei Manfred Korfmann und hat einen großen Teil seiner Laufbahn in dessen Team verbracht. In den Medien vertritt er die gleichen verunglimpfenden Ansichten über mich wie sein Doktorvater. Ich sehe keine Verbesserung der Situation. Für mich ist Troja inzwischen uninteressant, solange nicht systematisch außerhalb des Burghügels geforscht wird. 

Ein relativ großes Problem bei der Erforschung der bronzezeitlichen Hochkulturen im östlichen Mittelmeerraum scheint es gewesen zu sein, dass manch bedeutender Fund/Befund nie oder nur stark zeitverzögert das Licht der Öffentlichkeit erblickte. So beschreiben Sie beispielsweise, wie Sir Arthur Evans, der Ausgräber von Knossos (Kreta), zeitlebens die Veröffentlichung der von ihm entdeckten Dokumente in Linear-B-Schrift verhinderte, weil er befürchtete, jemand anders könnte sie vor ihm entziffern. Kommt so ein erbärmliches Verhalten nach Ihrer Erfahrung auch heute noch vor? Verwehrt man der wissenschaftlichen Konkurrenz unter Zuhilfenahme irgendwelcher Vorwände Zugang zu wichtigen Daten?
Ja, daran hat sich nichts geändert – und die Archäologen leiden darunter viel stärker als ich, denn für meine Arbeit spielen Artefakte eine untergeordnete Rolle. Ausgräber und Sammlungskuratoren bestimmen nach Gutdünken, wer Zugang zu Material bekommt und wer nicht. Die luwische Hieroglypheninschrift, die Fred Woudhuizen und ich jetzt erstmals veröffentlicht haben, kannten einzelne Experten seit rund dreißig Jahren. Sie sorgten aber dafür, dass niemand anders davon erfuhr. Neben diesem Machtmonopol gibt es auch das Problem, dass manche Publikationsprojekte zwei bis drei Generationen in Anspruch nehmen. Langsamkeit gilt oft als Ausdruck wissenschaftlicher Sorgfalt. Ich halte das für Unsinn. Ergebnisse sind sowieso immer nur temporär gültig, und die Diskussion muss im Fluss bleiben. Zudem sollten Forscher in der Lage sein, auch in kurzer Zeit sauber und sorgfältig zu arbeiten und zu publizieren.

Selbst die Hethiter verwendeten luwische Hieroglyphen, wie diese Inschrift aus der hethitischen Hauptstadt Hattuša zeigt.
© Oculus Illustration, Zürich | Zum Vergrößern auf das Bild klicken


Auch für die Erforschung der Luwier ist die Kenntnis der überlieferten Schriftzeugnisse von zentraler Bedeutung. Genau in der Hinsicht beinhaltet Ihr Buch eine kleine Sensation, indem Sie nämlich die lange verschollenen und mitunter sogar als Hirngespinst abgetanen Hieroglyphentexte von Beyköy (Türkei) veröffentlicht haben. Vielleicht können Sie uns deren Bedeutung für die Forschung etwas näher erläutern?
Kurz vor dem Erscheinen des Buches traf ich den Schriftexperten Mark Weeden in Zürich. Er sagte mir, dass dieses umfangreiche Dokument über 50 Prozent des gesamten Textmaterials aus der Bronzezeit Kleinasiens ausmachen würde – und dass es praktisch alles über den Haufen werfen würde, was bisher über die Lesung luwischer Hieroglyphen gesagt worden war. Das also ist der Stellenwert des Textes aus linguistischer Sicht. Im Hinblick auf seinen Inhalt löst dieses Dokument – zusammen mit anderen Schriftzeugnissen aus dem Nachlass von James Mellaart – das Rätsel um die politische Geografie Westkleinasiens am Ende der Bronzezeit. Hundert Jahre hat die Forschung mit dieser Aufgabe gerungen. Vor allem erklärt das Dokument aber die Ereignisse rund um den Untergang des Hethiterreichs und die Seevölker-Invasionen, und zwar sehr detailreich. Selbst manche Experten, die sich gegen die Veröffentlichung gestellt haben, bezeichnen den Text als Jahrhundertfund – wenn er denn echt ist. 

Sie sprechen die Echtheit an: Da es sich bei den luwischsprachigen Beyköy-Texten um Abzeichnungen der Original-Funde handelt, könnten Kritiker in der Tat anmerken, man habe es hier eventuell mit Fälschungen zu tun. Wie wahrscheinlich ist das?
Nach meinem heutigen Kenntnisstand besitzt der englische Hieroglyphenexperte David Hawkins seit 1989 eine Kopie des Dokuments. Sein damaliger Freund James Mellaart hatte sie ihm seinerzeit geschickt und ihn um seine Meinung gebeten. Hawkins hat Mellaart damals schon unterstellt, das Dokument gefälscht zu haben; was natürlich das Ende ihrer Freundschaft bedeutete. Dazu muss man sagen, dass Mellaart luwische Hieroglyphen gar nicht lesen konnte. Außerdem deckt sich der Inhalt des Dokuments mit dem Erklärungsmodell für die Seevölker-Invasionen, das ich erstmals 1994 – also fünf Jahre später – vorstellte. Vor allem aber kommt in dem Dokument eine Symbolverwendung zum Einsatz, die mein Kollege und Ko-Autor Fred Woudhuizen erst 25 Jahre später erkannte. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie irgendjemand – und James Mellaart schon gar nicht – eine solche Fälschung zustande gebracht haben könnte.

Sie haben vor wenigen Jahren die gemeinnützige Stiftung Luwian Studies gegründet. Welche Ziele verfolgen Sie mit dieser Stiftung?
Die Stiftung hat nur ein einziges Ziel: die Erforschung der Mittel- und Spätbronzezeit in Westkleinasien zu fördern und ihre Ergebnisse zu kommunizieren. Seit 100 bis 140 Jahren werden die mykenische, die minoische und die hethitische Kultur erforscht. Über den Westen Kleinasiens – wo ja auch Troja liegt – wissen wir hingegen noch immer viel zu wenig. Die Stiftung möchte dazu beitragen, dass diese Wissenslücke geschlossen wird. 

Vielen lieben Dank, dass Sie die Zeit gefunden haben, meinen Lesern und mir so ausführlich Auskunft zu geben.




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 https://hiltibold.blogspot.com/2017/12/zangger-intrigenstadl-troja-.html



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24 Kommentare:

  1. Die Freiheit von Forschung und Lehre ist und bleibt eine der großen Lügen unserer Gesellschaft. Denn in welche Richtung geforscht werden soll, bestimmt ja häufig nicht der Forscher alleine, sondern auch seine Geldgeber. Also der Staat (=Politiker mit parteilichen/ideologischen Interessen) oder Private mit Interessen an Gewinn bzw. Umwegrentabilität!

    Der Wanderschmied

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  2. Arthur Evans ist sowieso eine aus wissenschaftlicher Sicht ziemlich zwielichtige Figur. Seine phantasievolle "Rekonstruktion" des bronzezeitlichen Palastes von Knossos wird scherzhaft als erstes Stahlbetonbauwerk Kretas bezeichnet. :-)

    LG,
    Martina

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    1. Vielen Besuchern von Knossos ist gar nicht bewusst, dass z.B. die massiven "bronzezeitlichen" Säulen gar nicht aus Stein sondern aus Beton sind.
      Das Treiben von Evans haben schon Zeitgenossen scharf kritisiert.

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  3. Bei den von Dr. Zangger geschilderten Vorgängen ist es kein Wunder, wenn sich reißerisch gestrickte Bücher à la "Verbotene Archäologie" wie die warmen Semmeln verkaufen. Ich selbst habe die darin enthaltene Kritik an der Veröffentlichungspolitik von Datenmaterial lange für Spinnerei aus der Verschwörungstheoretiker-Ecke gehalten. Bei näherer Beschäftigung mit dem Thema habe ich dann aber bedauerlicherweise festgestellt, dass in der Realität vieles noch weitaus schlimmer ist, als es sich selbst manch Autor von fiktionalen Geschichten hätte ausdenken können.

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    1. Man denke nur an die berühmten "Schriftrollen vom Toten Meer". Dass sich darum wilde Geschichten zu ranken begonnen haben, liegt genau an der absolut zurecht kritisierten inhärent beschissenen Publikationspraxis in der archäologischen Forschung.

      Mehr als einmal hätte ich mir während meines Studiums die Haare raufen können, wenn sich ein archäologisches Museum auf meine höfliche Anfrage nach Zugang zu bestimmten Objekten wieder einmal taub gestellt hat oder erst nach Monaten antwortete. Angehenden Wissenschaftlern wird so das Gefühl gegeben, als wären sie nervige Bittsteller. Besonders im Fall von staatlichen, mit Steuergeld subventionierten Museen ist so ein Verhalten m.M.n. ein echtes Unding.

      Gott sei Dank bin ich frühzeitig aus der Archäologie ausgestiegen und in die Geologie gewechselt.

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    2. Das Beste zu den "Schriftrollen vom Toten Meer" hat bislang Étienne Couvert beigetragen, indem er den Mythos der "Essener" hinterfragte und schlüssig zeigte, dass die Schriften aus der heterodoxen judenchristlichen Strömung des ersten Jahrhunderts nach Christus stammen, die im Neuen Testament "Ebioniten" genannt wird. "Essener" ("Die Heiligen") ist nichts anderes als die Selbstbezeichnung der frühen Christen im Neuen Testament (Christen wurden sie erstmals in Antiochia genannt); der ominöse "Lehrer der Gerechtigkeit" ist Jesus Christus selbst in häretischer Sicht.
      Von "Essenern" ist in den Quellen für die vorchristliche Zeit nur ein einziges Mal die Rede bei Fl. Josephus, der schreibt der aufständische Judas sei "eine Art Essener" gewesen - zu dünn, um die Existenz einer "Essenersekte" schon im ersten Jahrhundert vor Christus zu behaupten. So könnte heute vielleicht jemand manches Phänomen der ferneren Vergangenheit als "eine Art Faschismus" retrospektiv benennen.
      So erschließt sich auch, warum Josephus so bemerkenswert, beinahe gläubig, über Jesus schreibt, was keineswegs als mittelalterliche Ergänzung zu sehen ist, denn Josephus hatte in seiner Jugend Verbindungen zu den "Essenern" - war also Taufbewerber.
      Die häretischen Schriftrollen haben im Übrigen nichts mit der Siedlung Qumran am Toten Meer zu tun, sondern wurden erst deutlich später ausgehend von Klöstern in den Höhlen in der Art einer Geniza hinterlegt, als der Besitz der Schriften als gefährlich erkannt wurde.
      Leser

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  4. Unabhängig von Zanggers Thesen zu den Luwiern, die man so oder so sehen kann, aber die am Ende des Interviews verlinkte Radiodiskussion ist ein Paradebeispiel für die hässlichen Methoden, mit denen man im Wissenschaftsbetrieb Menschen mit anderer Meinung an den Karren fährt: Ein Herr Mirko Novak gebärdet sich da als notorischer Verneiner, der Zangger ständig irgendwelche Aussagen unterjubeln möchte, um diese dann als Angriffspunkt verwenden zu können. Die herablassende Klugscheißerei dieses Rabulisten ist wirklich nur schwer zu ertragen. Ich wäre hier nicht so ruhig geblieben...

    Gero

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  5. Ich denke, von den Luwiern habe viele Menschen noch nichts gehört - ich eingeschlossen. Aber trotzdem ein spannendes Thema!

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  6. Ist überhaupt 100prozentig sicher, dass das "Troja" in der Türkei das echte Troja ist?
    Z.B Raoul Schrott sieht das anders.
    ;-)

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    1. Nichts gegen Raoul Schrott, aber wenn es um den Standort von Troia geht, hört er meiner Meinung nach das Gras wachsen ;-) .
      Prof. Ernst Pernicka zeigt in einem Vortrag, warum der Siedlungshügel von Hisarlik sehr gut zu den Beschreibungen in Homers Erzählungen passt.

      https://www.youtube.com/watch?v=BTOZ1T034c0

      Philipp_

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  7. Herr Zangger liegt vollkommen richtig, ein Profi muss auch zu zügigem Arbeiten in der Lage sein. Aber da manch ein Archäologe mehreren Tätigkeiten parallel nachgeht, also zB neben seiner Grabungstätigkeit in Beiräten sitzt und Bücher schreibt, funktioniert das leider alles nicht so geschmeidig wie es wünschenswert wäre ...

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    1. die katholische kirche hat ämterhäufung schon auf dem konzil von trient (16. Jh.) kritisch thematisiert. wann wird dieser nachdenkprozess in der archäologischen community einsetzen? ;o) chris

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  8. Da geht es offensichtlich ganz schön wild zu, hinter den Kulissen bei den Archis.
    Und ich habe mir bisher immer gedacht, Simmering gegen Kapfenberg ist wahre Brutalität. ;-)

    LG,
    Erwin

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  9. Manch Wissenschaftler kommt heute nicht einmal mehr der Publikationspflicht hinsichtlich seiner Diss nach. Da gab es schon mehrere öffentlich gewordene Fälle, bei denen deutsche Universitäten dieses Verhalten gedeckt und zum Teil sogar gefördert haben. Erst nachdem Außenstehende nachbohrten, kam es zu einer Veröffentlichung.

    Bei solchen Zuständen komme ich mir ganz schön veräppelt vor. denn bei meiner Meisterprüfung musste der Leistungsnachweis sofort erbracht werden, nicht erst Jahre später, nachdem das Diplom längst verliehen worden war.

    Herrn Zangger wünsche ich viel Erfolg mit seiner Forschung. Ich bin gerade zu einem Drittel mit seinem neuen Buch durch. Das Thema Luwier finde ich überraschend interessant.

    H. L. L.

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  10. Interessante Schriftzeichen hatten diese Luwier!
    Mal etwas ganz anderes als ägyptische Hieroglyphen oder das unübersichtliche Durcheinander von Keilschrifttexten.

    Alles wo Steuergeld drinnen steckt, sollte zwingend zeitnah unter Public-Domain-Lizenz veröffentlicht werden.
    Wenn das einem Forscher nicht passt, dann kann er sich ja nach privaten Geldgebern umsehen.

    Grüße
    Robi

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  11. Sehr zu empfehlen ist auch Eberhard Zanggers Vorgängerbuch. Der Titel lautet "Die luwische Kultur. Das fehlende Element in der Ägäischen Bronzezeit". Der Fokus liegt darin weniger auf der Forschungsgeschichte und den Forscherschicksalen, sondern mehr auf dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu den Luwiern und den Hochkulturen im östlichen Mittelmeerraum in der Späten Bronzezeit. Ich fand seine Erläuterungen sehr gelungen und erleuchtend!

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  12. Tja, in Zangger's Büchern über den Luwiern wimmelt es von Fehlern und Ungenauigkeiten, sie sind einfach lächerlich. Sein Schreibstil ist genauso wie ein von den Amerikanern schon 1960er Jahre als "paranoid style" beschrieben worden ist, ohne dass man einen medizinischen Zustand damit meint. Er hat mehrmals wiederholt, dass Mellaart kein Luwisch konnte, doch in der Zeitschrift von Talanta meint er und Woudhuizen, gerade Mellaart hätte die Reihenfolge der Blöcke geändert, die nach der Bearbeitung von Perrot & Alkım falsch geordnet waren. So etwas kann man nicht machen, wenn man die Sprache nicht kann :). Zangger behauptet auch, mehrere Forscher wussten über die Inschriften, doch kann er nichts, absolut nichts vorzeigen. Ich werde in der Zukunft mehrere Punkte ansprechen, die zeigen werden, dass seine Texte nichts mit der Wissenschaft zu tun haben.

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  13. Der Spiegel hat kürzlich auch einen Artikel über Zanggers Forschung gebracht. Nicht so ausführlich wie dieser, aber trotzdem interessant. Ledier befindet er sich größtenteils hinter einer Paywall.
    https://magazin.spiegel.de/SP/2017/41/153650517/index.html?utm_source=spon&utm_campaign=centerpage

    -Herk-

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    1. Ja, den Artikel habe ich schon seit Anfang Oktober :), das Buch habe ich auch schon durchgearbeitet, sowie den Artikel in Talanta, beinhaltet alles den gleichen Unsinn. Zangger stellt sich in die Reihe von Forschern, die seiner Meinung nach unrecht behandelt worden sind -- als ob er irgendwie mit Forrer et al. das Wasser reichen konnte. Ist echt der Witz, seine ganze Verschwörungstheorie. Und die Niveau von Der Spiegel ist miserabel geworden -- alle ihre Leser so dermassen zu veraschen ist journalistisch unverantwortlich. Die Leser verdienen etwas besseres.

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    2. Nein, keine Verschwörungstheorie. In Kenntnis der Zustände schrieb die renommierte britische Althistorikerin Mary Beard im Jahr 2000 in ihrer Rezension einer Biographie von Sir Arthur Evans: "Die prä-hellenistische Archäologie ist kein besonders freundliches Fach."
      Wie zutreffend das ist, belegt u.a. dein ätzender Tonfall.

      -Herk-

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    3. Es ist immer toll, wenn jemand sich hinter der Anonymität verbirgt :). Wenn Sie's selbst sind, Herr Zangger, dann können Sie sich direkt bei mir melden. Es geht mir dabei nur darum, was man den allgemeinen Leser anbietet (Fantasiegeschichten statt Forschung). Alle akademischen Kreisen sind nicht immer freundlich -- doch denke ich, dass die Mehrheit der richtigen Forscher miteinander neutral und kollegial über die Sachfragen diskutieren kann. Das hat mit dem Irreführen des Publikums aber nichts zu tun. Zangger schreibt, es seien etliche Forscher und andere Personen gewesen, die über die Inschriften gewusst hätten aber sie nie in ihren eigenen Texten erwähnt & jetzt hätten auch viele es gewünscht, dass sie nicht "publiziert" werden sollten -- das kann man Verschwörungstheorie nennen. Weil sonst kann man's nicht erklären warum Zangger ausser Mellaart's Nachlass keine Belege für die Existenz dieser Inschriften vorführen kann. Wenn alle anderen Hinweise einfach zerstört und verschwunden sein sollen, dann ist es eine pure Verschwörungstheorie.

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    4. Ich bin nicht Eberhard Zangger. Und Herk ist kein Pseudonym, sondern mein Nachname. Außerdem fühle ich mich nicht dazu berufen, Zanggers Luwier-These zu verteidigen.
      Seine sachliche Kritik am Umgangston und dem z.T. schäbigen Verhalten innerhalb der Forschung teile ich aber völlig. Besonders hinsichtlich Manfred Korfmann. Ich konnte selbst lange genug als Klassischer Archäologe beobachten, wie Kollegen - völlig außerhalb eines redlichen wissenschaftlichen Diskurses - Andersdenkende gemobbt und in primitiver Weise mittels Pejorativen verächtlich gemacht haben.

      -Herk-

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  14. In der Türkei wird es aufgrund von Erdogan sowieso immer schwierige, seriöse Archäologie zu betreiben. Nationalisten und Islamisten wie er haben kein ernsthaftes Interesse am Erkenntnisgewinn, sondern wollen nur ihr krudes Geschichtsbild bestätigt sehen.

    Guinevere

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  15. Der Grabungsplatz von Troja hat bei meinen beiden letzten Besuchen vor zwei bzw. drei Jahren einen ziemlich trostlosen Eindruck gemacht. Eifrig geforscht scheint dort zurzeit nicht zu werden.

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