Montag, 15. April 2013

Der Turm als Achillesferse einer Kirche

Bauwerke setzen sich im Laufe der Zeit. Soll heißen, sie sinken aufgrund ihres Gewichts so lange in den Boden ein, bis sich dieser ausreichend verdichtet hat (es sei denn man baut auf Fels). Dieser Vorgang kann, je nach Beschaffenheit des Untergrundes, bereits nach wenigen Jahren weitestgehend zum Stillstand kommen, gegebenenfalls aber auch viele Jahrhunderte andauern.
Wie die linke Grafik veranschaulicht, war der Vorgang der Setzung für die Architekten bzw. Werkmeister des Mittelalters vor allem deshalb ein Problem, weil die Belastung des Untergrunds im Bereich des Kirchturms deutlich stärker war, als im Bereich des Kirchenschiffs. Schließlich wirkte unter dem Turm auf eine vergleichsweise kleine Fläche, eine ungleich größere Masse ein. Dadurch ging hier der Prozess der Setzung schneller vonstatten, als dies beim Kirchenschiff der Fall war.
Dort wo die beiden Gebäudeteile miteinander verbunden waren, kam es deshalb oft zu Rissbildungen.  Im schlimmsten Fall konnte ein Bauwerk ganz, oder zumindest teilweise, einstürzen; so geschehen bei den Kirchen St. Moritz (Schweiz) und Mesnay-Arbois (Frankreich).  Der Wiener Stephansdom ist diesem Schicksal bisher entgangen, obwohl sich sein 136 Meter hoher Südturm im Laufe der Zeit um rund 16 Zentimeter mehr gesetzt hat, als der Rest des Gebäudes...
Was tat man im Mittelalter gegen diese Problematik? Man mauerte den Turm bis auf die Höhe des Kirchenschiffs und unterbrach dann die Arbeit an ihm. Erst einige Jahren später machte man sich wieder ans Werk; in der Hoffnung, der Boden habe sich in der Zwischenzeit unter dem Turm vollständig gesetzt. Beim Stephansdom ist der diesbezügliche Erfolg aber offensichtlich eher bescheiden ausgefallen. Andererseits, wer weiß schon was geschehen wäre, wenn man einst gar keine Maßnahmen getroffen hätte....

Besonders übel/kompliziert wurde es, wenn die Kirche auf einem geneigten Boden- bzw. Schichthorizont errichtet wurde - siehe die Grafik rechts.
Die schrägen Linien stellen Schichten aus einem vergleichsweise leicht verformbaren Material dar. In diesen Bereichen setzt sich der Untergrund rascher als anderswo. Durch das unterschiedlich starke/schnelle Einsinken, entstanden im gesamten Bereich des Gebäudes Risse. Die Einsturzgefahr war hier sehr hoch!
Mithilfe von tiefen Sondierungsstollen hätte man solch problematische Baugründe zwar entlarven können, doch scheint man dies aus Kostengründen oder Leichtsinn oft unterlassen zu haben.
Die Neigung des Schiefen Turms von Pisa, beruht übrigens auf ähnlichen Gegebenheiten. Unter dem vermeintlich sicheren Baugrund, befanden sich nämlich eine Schicht aus leicht verformbarem Ton. Der Turm neigte sich deshalb nicht nur bald nach seiner Errichtung, sondern er sank, was viele Menschen nicht wissen, auch über einen Meter in den Untergrund ein.
Zum Glück steht er, wie es in Italien häufiger der Fall ist, frei. Wäre er mit der Kirche verbunden gewesen, hätte dies höchstwahrscheinlich zu einer Zerstörung des gesamten Bauwerks geführt.

Obige Probleme sind übrigens mit ein Grund, warum etliche Türme mittelalterlicher Kirchen unvollendet blieben.


Weiterführende Literatur:
Dietrich Conrad | Kirchenbau im Mittelalter: Bauplanung und Bauausführung | Verlag: E. A. Seemann | Infos bei Amazon

10 Kommentare:

  1. Vielleicht wusste man damals auch gar nicht, dass es natürliche Gründe hat, wenn ein Gebäude ansieht und nahm es als Strafe Gottes? *grübel*

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    1. Zum Teil wusste man es wahrscheinlich tatsächlich nicht so genau und hat sich einfach nur gewundert. Pisa ist ein gutes Beispiel, da dort der Boden auf den ersten Blick ja recht stabil aussah.
      Das Problem mit der Setzung an sich, kannte man allerdings spätestens seit der Antike.
      Bereits die Römer haben im Falle plastisch allzu leicht verformbarer Bodenschichten dicht an dicht leicht angekohlte, zugespitzte Baumstämme in den Untergrund gerammt, um dann darauf die Fundamente zu errichten. Auch im Mittelalter kannte man, dank Vitruv, diese Technik noch sehr gut (siehe Venedig, als bekanntestes Beispiel).
      Aber es war den Bauherren wohl häufig eine zu aufwendige/teure Vorgehensweise.

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  2. Also war es vielleicht nicht nur Geldmangel, der den Stephansdom um seinen 2. Turm brachte ;-)
    LG,
    Erwin

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  3. Komme über die Zeitzeugin hierher und war gleich begeistert von Deiner Qualität. Daher dachte ich mir, empfehle ich Dich mal an ein neues Mittelaltermagazin namens Zeytenwandler weiter. Ich habe da jetzt keinen Einfluss, oder so - aber vielleicht kannst Du da ja ein paar Artikel platzieren und Deine Reichweite erhöhen, denn Du verdient definitiv Leser!

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  4. Interessante Zusammenhänge! War spannend zu lesen!
    LG Calendula

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  5. Sehr interessant. Mit dem Thema habe ich mich, ehrlich gesagt, noch nie befasst, also vielen Dank für den Einblick. Beim Schiefen Turm von Pisa war ich schon, wusste aber auch nicht, dass der nicht nur schief, sondern auch eingesunken ist. ;)

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    1. wusste aber auch nicht, dass der nicht nur schief, sondern auch eingesunken ist
      Und er hat die leichte Form einer Banane, da man, nachdem er bereits schräg stand, noch einige lotrechte Stockwerke draufsetzte...

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