Mittwoch, 17. Dezember 2014

Die historischen Quellen von Reclam - Beispiel: Vita Sancti Severini und einige Schlaglichter auf das 5. Jh.



Der Reclam-Verlag bietet im Rahmen seiner sogenannten "Universalbibliothek" eine große und beständig wachsende Auswahl an historischer Quellen an. Zwar sind die Einbände dieser relativ günstigen Bücher sehr empfindlich, doch mit einem entsprechenden Schutzumschlag versehen, ist die Haltbarkeit halbwegs akzeptabel. 
Dass einige Übersetzungen leider schon etwas älteren Datums bzw. nicht mehr ganz zeitgemäß sind, habe ich im Rahmen einer Rezension bereits angemerkt. Verschachtelte Endlossätze und überbordende Wortkaskaden sind, von der Juristerei abgesehen, heute auch im akademischen Bereich eher unüblich.
Von einer klaren und halbwegs modernen Sprache der Übersetzungen abgesehen, erwarte ich mir aber vor allem viele interessante Details aus dem Alltagsleben unserer Vorfahren; beispielsweise Beschreibungen von Gebrauchsgegenständen, Arbeitsvorgängen oder die Schilderung sozialer Aspekte. Gerade in diesen Bereichen besitzen antike oder mittelalterliche Schriften eine vergleichsweise hohe Glaubwürdigkeit.

Wurden jedoch politische Vorgänge oder das Leben einer bedeutenden Persönlichkeiten beschrieben, dann bekommt man es beinahe unweigerlich mit einem Wust an Halbwahrheiten und Lügen zu tun. Siehe z.B. die Vita des Severin von Noricum. Wie bei Hagiographien üblich, steckt sie voller angeblicher Wunder, über die wir heute zumeist nur noch den Kopf schütteln können. So war es für mich dann auch recht ermüdend, diese endlose Aneinanderreihung "märchenhafter" Begebenheiten durchzuackern. Als Lohn erhält man jedoch einige interessante Informationen, um die es im Folgenden gehen soll:

1. Flüsse als Transportwege: Nicht nur der Lebensbeschreibung des heiligen Severin ist zu entnehmen, dass im 5. Jh. germanische Gefolgschaften bzw. Räuberbanden die Nordprovinzen des nahezu völlig kollabierten (West-)Römischen Reichs durchstreiften.
War in dieser Situation eine Versorgung der lokalen Bevölkerung überhaupt noch möglich?
Offenbar ja, denn abseits der extrem unsicheren Straßen scheint der Warentransport auf Flüssen nach wie vor funktioniert zu haben. So soll laut Eugippius - dem Autor von Severins Lebensgeschichte - die hungernde Bevölkerung der befestigten Siedlung Favianis (Mautern, NÖ) über Inn und Donau mit Nahrungsmitteln aus Rätien versorgt worden sein.

2. Klimaverschlechterung: Interessant ist an der zuvor beschriebenen Begebenheit auch, dass die aus Rätien kommenden Schiffe einige Zeit im vereisten Inn feststeckten. An anderer Stelle ist davon die Rede, dass auch die Donau aufgrund sehr kalter Winter häufig zufror und sogar von "Lastwagen" befahren werden konnte (gemeint ist hier das plaustrum).
Diese Beschreibung deckt sich mit klimatologischen Untersuchungen, wonach sich spätestens zur Zeit Severins das Klima deutlich abkühlte. Man spricht hier vom Pessimum der Völkerwanderungszeit, welches mit ein Auslöser für den Aufbruch großer Menschenmassen gen Westen gewesen sein soll.

3. Überbevölkerung und Menschenraub: Als weitere Triebfeder der großen Völkerwanderungen wurde und wird gelegentlich auch eine Überbevölkerung auf Seiten der Germanen in den Raum gestellt. Alle Stammesangehörigen zu ernähren, sei kaum noch möglich gewesen, sodass größere Gruppen aufgrund dieser Notlage auswanderten, heißt es.
In der Vita des heiligen Severin ist jedoch unzählige Male von der Verschleppung römischer Bürger die Rede, welche daraufhin von den Germanen zu Sklavendiensten gezwungen wurden. Ja, man bekommt sogar den Eindruck, dass Severin einen Großteil seiner Zeit und Energie darauf verwendete, unzählige solcher Gefangenen zu befreien.
Wieso hätten die Germanen nun aber immer und immer wieder die Bevölkerungen ganzer Städte in ihre Herrschaftsgebiete, jenseits der Donau und des Rheins, entführen sollen, wenn sie doch angeblich selbst an Überbevölkerung und Nahrungsmangel litten? Ich bin freilich nicht der Erste, dem dieser Widerspruch auffällt.

4. Mangel an Kleidung: Mehrfach ist davon die Rede, dass die Bevölkerung des Grenzlandes, die unter den ständigen Barbarenangriffen besonders litt, über zu wenig Kleidung verfügte. Daraufhin wurden auf Initiative Severins aus weniger drangsalierten Provinzen entsprechende Spenden organisiert.
Dies ist ein interessanter Punkt, denn er lässt meiner Ansicht nach zwei Interpretationen zu. Die eine ist, dass der Autor hier Anleihe an der Vita des Heiligen Martin von Tours nimmt, der bekanntlich seinen Mantel mit einem Bettler teilte. Die zweite Möglichkeit erscheint mir allerdings wahrscheinlicher: Im unruhigen Ufer-Noricum und in einigen Gebieten Rätiens konnten schlicht und ergreifend nicht mehr genügend textile Rohstoffe produziert werden. Der Bevölkerung, die sich verängstigt hinter den Mauern von Kastellen und Städten duckte, war es kaum noch möglich Schafzucht zu betreiben oder Flachs (Leinen) anzubauen. Diese Schwierigkeit landwirtschaftlich tätig zu sein, wird auch das Ihrige zu den oben erwähnten Hungersnöte beigetragen haben.

5.  Textilien aus Ziegenhaar: Sorgte der in Punkt 4 beschriebene Mangel an Schurwolle und Leinen vielleicht dafür, dass vermehrt auf etwas ausgefallenere (kurze und daher schwerer verspinnbare) tierische Fasern zurückgegriffen wurde? Severin soll beispielsweise auf einem sogenannten Cilicium geschlafen haben. Dabei handelt es sich um eine aus Ziegenhaar gewebte Decke. Allerdings ist hier Vorsicht angebracht, denn das raue Cilicium galt auch als eine Versinnbildlichung von Askese und Demut. Gut möglich, dass es Severin nur aus diesem Grund für sein Nachtlager verwendete - oder es ihm später einfach zwecks Beweihräucherung angedichtet wurde.
(Über scheinbar ungewöhnliche Tierhaare als Rohstoffe antiker Kleidung habe ich übrigens hier schon einmal einige Sätze geschrieben.)

6. Das Heidentum war noch nicht besiegt: Als Severin in das  Kastell Cucullis (Kuchl, Sbg.) kam, wurde ihm zugetragen, dass ein Teil der Bevölkerung an einem "abscheulichen Götzendienst" festhielt.
Selbst 80 Jahre nachdem Theodosius das Christentum quasi zur Staatsreligion gemacht hatte, blieben also Teile der Bevölkerung noch immer ihrem alten Glauben treu. Er könnte in diesem Fall noch keltischen Ursprungs gewesen sein, aber auch der bei Soldaten so beliebte Mithraskult aus den Nahen Osten ist denkbar - Cucullis war schließlich primär eine militärische Anlage.
Besagte Heiden übten ihre Kulthandlungen im Verborgenen aus, denn erst durch ein (angebliches) Wunder konnten die "Missetäter" ausgeforscht und zum Christentum bekehrt werden. Wobei auffällt, dass Severin bei diesen und ähnlichen Aktionen, die der Verbreitung des Christentums dienten, auf Gewalt verzichtete. Gutes Zureden scheint gereicht zu haben und war vermutlich auch ratsamer, wenn tatsächlich ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung heidnischen Praktiken anhing. Eine Spaltung konnte Severin nicht gebrauchen, war er doch in Wirklichkeit kein klassischer Geistlicher, sondern ein hochrangiger Verwaltungsbeamter, der in extrem schwierigen Zeiten zu retten versuchte, was noch zu retten war: Nämlich die Leben unzähliger Provinzialrömer.

7. Eine Holzkirche auf Pfählen: Bei seinem Besuch im oberrätischen Kastell Quintanis (Künzing, BY) fand Severin eine kleine Holzkirche vor, die aufgrund häufiger Überschwemmungen "freischwebend auf Pfosten und gabelförmigen Stützbalken ruhte" - also bronzezeitlichen Pfahlbauten nicht unähnlich war. "Anstelle eines (fest gestampften) Estrichs war ein Fußboden aus gehobelten Brettern verlegt", heißt es.
Severin soll jedoch recht verwundert darüber gewesen sein, "dass die Dielen frei von einem Belag sichtbar sind". Die Menschen vor Ort erklärten ihm, der Fluss steige manchmal so hoch, dass über kurz oder lang jeder Estrich von den Dielen gespült werde. Daraufhin vollführte Severin irgendeinen Hokuspokus ;) und versicherte, der Estrich würde nie wieder zerstört werden, man könne ihn daher bedenkenlos neu verlegen.
Diese Begebenheit erscheint mir etwas merkwürdig, denn wieso sollte man einen schönen gehobelten Holzboden mit festgestampfter Erde, Lehm oder ähnlichen Materialien bedecken? Eine solche Form des Estrichs ist mir eigentlich nur von jenen Pfahlbauten her bekannt, deren Boden aus Knüppeln/Ästen bestand, zwischen denen sich relativ große Lücken auftaten. Diese wurden daher großzügig mit einer Mischung aus Lehm und Sand (oder Kreide) gefüllt. Bei zurechtgehobelten Brettern, sollte das ja eigentlich nicht nötig sein, würde man zumindest meinen. Doch leider wird im überlieferten Text nicht näher auf dieses Thema eingegangen.


Quelle: 
Eugippius / Theodor Nüsslein (Übers.) | Das Leben des Heiligen Severin | Reclam | Infos bei Amazon


2 Kommentare:

  1. Die These mit der germanischen Überbevölkerung in der Völkerwanderungszeit ist in der Tat sehr fragwürdig. Ich würde eher darauf tippen, dass man die eigene wirtschaftliche Lage auf Kosten der Nachbarn verbessern wollte.

    Meine Reclam-Heftchen überdauern leider oft nur wenige Jahre ...
    Wo hast du deine Schutzumschläge dafür gekauft?

    Barbara


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    1. Die mache ich mir selbst :)

      http://hiltibold.blogspot.com/2014/07/krimskrams-am-freitag-selbstgemachte.html

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