Bei manch Sprichwort geht im Laufe der Zeit unser Verständnis für seine Bedeutung völlig verloren. Ein gutes Beispiel dafür stammt aus der Antike und lautet:
"Der Chier hat sich endlich einen Herrn gekauft."
Wenn wir heute diese Formulierung in einem alten Text lesen, stehen wir vor einem großen Rätsel. Um zu enthüllen was genau dahinter steckt, ist es sinnvoll und interessant, etwas tiefer in die Geschichte einzutauchen.
Krieg, der Vater aller Dinge
Als im sogenannte 1. Mithridatischen Krieg (89–84 v. Chr.) der machthungrige pontische König Mithridates VI. dem römischen Staat die Herrschaft im östlichen Mittelmeer entriss, konnte er sich auf ein breites Bündnis der lokalen Völker Kleinasiens und der griechischen Kolonien stützen; sie waren der korrupten Stadthalter Roms einfach überdrüssig.
Doch nicht jeder dachte so; beispielsweise weigertes sich das privilegierte Rhodos strickt, gegen die Stadt am Tiber Position zu beziehen und sich Mithridates anzuschließen. Dieser entschied sich daher im Herbst 88 v. Chr. dazu, den widerborstigen Inselstaat zu erobern; einerseits um ein Exempel zu statuieren, andererseits um Rom vorsorglich einen möglichen Brückenkopf für zukünftige Rückeroberungsversuche zu nehmen.
Freilich, der pontische König hätte vor der großen Schwierigkeit dieses Unternehmens gewarnt sein müssen, denn über 200 Jahre zuvor (305/304 v. Chr.) hatte sich der legendäre hellenistische Feldherr Demetrios Poliorketes (der "Städtebelagerer") trotz seiner geradezu zyklopisch anmutenden Kriegsmaschinen an den Befestigungen der Insel die Zähne ausgebissen. Neben einem 55 Meter langen Rammbock zum Durchbrechen von Mauern kam dazumal auch der sogenannte Helepolis ("Stadteroberer") zum Einsatz. Dabei handelte es sich um einen 40 Meter hohen, 160 Tonnen schweren Belagerungsturm aus Holz, der vollständig mit Eisenplatten verkleidet war. Als Demetrios trotz des von ihm getriebenen Aufwandes nach einem Jahr die Belagerung erfolglos beendete und unter Zurücklassung seiner Kriegsmaschinen abzog, war es der Erlös aus dem Verkauf besagter Eisenplatten, mit dem die Inselbewohner den Bau eines der sieben Weltwunder finanzierten - den Koloss von Rhodos.
Mithridates gedachte es besser zu machen als Demetrios Poliorketes; die Befestigungsanlagen von Rhodos sollten deshalb nicht nur von Land her angegriffen werden, sondern auch von der Seeseite. Hierzu ließ er eine Sambyke bauen (Belagerungsturm mit Schwenkarm/"Enterbrücke") und diese auf zwei große Schiffsrümpfe montieren (ähnlich einem Katamaran). Weiters sollte seine gewaltige Flotte die Insel von jeglichem Kontakt zur Außenwelt abschneiden. Beide Ansätze entpuppten sich allerdings als Fehlschlag. Denn zum einen krachte die Sambyke unter dem Gewicht von Mithridates' Soldaten in sich zusammen. Zum anderen verfügte der König von Pontos aufgrund seiner zahlreichen Verbündeten zwar über mehr Schiffe als die Rhodier, welche jedoch, wie sich bald herausstellte, die eindeutig erfahreneren Seeleute waren. Hinzu kam, dass sie von einem wahren Ausnahmetalent kommandiert wurden - dem Admiral Demagoras. Dieser rieb - während sich Mithridates' Landstreitkräfte an den massiven Mauern von Rhodos die Köpfe einrannten - die feindliche Blockadeflotte Stück für Stück auf, indem er immer wieder überraschende Vorstöße unternahm und die größeren Pötte des Feindes geschickt ausmanövrierte. Ein besonders Husarenstück gelang ihm, als er mit nur sechs schnellen Schiffen den Hafen verließ und Mithridates dazu veranlasste, ihm mit 26 Schiffen aufs Meer hinaus zu folgen. Bei Sonnenuntergang wurde dem König von Pontos die Jagd zu bunt und er befahl umzukehren. Doch jetzt, im Zwielicht der Dämmerung, machte Demagoras mit seiner Flottille plötzlich kehrt und rammte unversehens mehrere feindliche Schiffe. In diesem Chaos stieß eine mit Mithridates verbündete Trireme aus Chios in voller Fahrt gegen das königliche Flaggschiff, welches trotz des heftigen Anpralls wie durch ein Wunder nicht unterging. Und während die schlauen Rhodier zwei Schiffe der pontischen Flotte abdrängten und bis vor die Küste Lykiens (heutige Türkei) verfolgten, kochte der zurückbleibende Mithridates ob all dieser Demütigungen. Mehr noch, in ihm erwuchs der nagende Verdacht, dass die Chier sein Flaggschiff nicht zufällig gerammt hatten. Zu gegebener Zeit würde diese Angelegenheit weiterverfolgt werden. Vorerst musste man sich damit zufrieden geben, Ausguck und Steuermann der unglückseligen Trireme auszupeitschen.
Die Konsequenzen für die Chier und die Entstehung des Sprichworts
Der Versuch Rhodos zu erobern scheiterte schlussendlich und Mithridaes begab sich grollend auf das Festland, wo längst andere Aufgaben auf ihn warteten. Doch nachtragend wie er sein konnte, vergaß er den ärgerlichen Vorfall mit seinen Verbündeten von Chios nicht. Hielt man dort vielleicht insgeheim zu Rom? Schließlich gab es noch andere Verdachtsmomente, wie etwa den Umstand, dass einige aristokratische Familien der Insel zum römischen Machthaber Sulla geflohen waren. Der hatte sich eben erst selbst mit der Rückeroberung der abgefallenen Gebiete im östlichen Mittelmeer beauftragt.
Mithridates grübelte eine Zeit lang über all das nach und schritt schließlich zur Tat, indem er seine Heerführer Zenobios und Dorylaos exakt instruierte, wie man den scheinbar wankelmütigen Chiern ihre Untreue heimzahlen sollte. Wenig später wurde Chios im Zuge eines Überraschungsangriffs besetzt; den zum Hauptplatz befohlenen Einwohnern verlas man einen von Mithridates verfassten Brief, in dem ihnen heimliche Sympathien für Rom unterstellte wurden. Eigentlich müsse man sie dafür mir dem Tode bestrafen, hieß es. Doch der König von Pontos gab sich gnädig und erklärte weiter, dass er damit zufrieden sei, wenn sämtliche Waffen ausgehändigt werden und die einflussreichsten Familien ihre Kinder als Geiseln stellen. Die eingeschüchterten Menschen taten wie ihnen geheißen und dürften insgeheim froh über den glimpflichen Ausgang des Strafgerichts gewesen sein.
Nachdem man den Nachwuchs zum Festland verschifft hatte, wurde plötzlich ein weiteres, wohl schon längst vorbereitetes Schreiben des Mithridates aus dem Hut gezaubert. Darin hieß es, die Chier würden immer noch heimlich die Römer unterstützen. Doch auch diesmal wolle man großzügig Nachsicht üben und verhängte statt der Todesstrafe ein Bußgeld in der Höhe von 2000 Talenten. Das entsprach 12 Millionen Drachmen - eine enorme Summe! Selbst Athen erwirtschaftete in seiner Blütezeit nicht mehr als 6 Millionen Drachmen pro Jahr. Söldner erhielten damals durchschnittlich eine Drachme pro Tag, sodass mit 12 Millionen Drachmen ein Heer von 35 000 Soldaten ein Jahr lang hätte finanziert werden können. Und vermutlich genau das beabsichtigte Mithridates mit dem Geld zu tun. Schließlich hatte er sich eben erst mit Rom angelegt.
Die Chier fügten sich jammernd den ruinösen Forderungen und trugen Bargeld, Schmuck sowie wertvolle Gerätschaften aus den Tempeln zusammen. Das dicke Ende stand ihnen freilich noch bevor. Als man nämlich allen Männern, Frauen, Kindern und Sklaven befahl, zum Wiegen der Preziosen ins Theater zu kommen, erhob der befehlshabende pontische General Zenobios die verlogene Anschuldigung, die Einwohner würden versuchen zu betrügen. Auf ein Zeichen hin riegelten Soldaten alles ab und separierten die Bürger mit flinken Händen von den Sklaven. Letztere erklärte man für frei, während ihre ehemaligen Besitzer unter Bewachung zum Hafen geführt und per Schiff ins ferne Kolchis am Schwarzen Meer verfrachtet wurden, wo sie bis zu ihrem Lebensende in Bergwerken schuften mussten.
So hatten sich also die Chier - nach einer boshaft inszenierten Prozedur - mit 2000 Talenten bzw. 12 Millionen Drachmen ihren Herrn gekauft: Den König Mithridates von Pontos.
Die einstige Beliebtheit des Sprichworts dürfte darauf zurückzuführen sein, dass viele Zeitgenossen schadenfroh auf die Versklavung der gesamten Bürgerschaft von Chios reagierten; schließlich war die Insel ausgerechnet durch den Sklavenhandel reich geworden. Bereits im 5. Jh. v. Chr. gab es angeblich nirgendwo in der griechischen Welt mehr Haussklaven - außer vielleicht bei den Spartanern. Unter römischer Herrschaft verlagerte sich der Menschenhandel dann zunehmend nach Delos, deren Bevölkerung jedoch bald ein sehr ähnliches Schicksal wie wie jene von Chios erleiden sollte. Und auch hierfür hieß der Verantwortliche Mithridates.
Weiterführende Literatur:
Mithridates grübelte eine Zeit lang über all das nach und schritt schließlich zur Tat, indem er seine Heerführer Zenobios und Dorylaos exakt instruierte, wie man den scheinbar wankelmütigen Chiern ihre Untreue heimzahlen sollte. Wenig später wurde Chios im Zuge eines Überraschungsangriffs besetzt; den zum Hauptplatz befohlenen Einwohnern verlas man einen von Mithridates verfassten Brief, in dem ihnen heimliche Sympathien für Rom unterstellte wurden. Eigentlich müsse man sie dafür mir dem Tode bestrafen, hieß es. Doch der König von Pontos gab sich gnädig und erklärte weiter, dass er damit zufrieden sei, wenn sämtliche Waffen ausgehändigt werden und die einflussreichsten Familien ihre Kinder als Geiseln stellen. Die eingeschüchterten Menschen taten wie ihnen geheißen und dürften insgeheim froh über den glimpflichen Ausgang des Strafgerichts gewesen sein.
Nachdem man den Nachwuchs zum Festland verschifft hatte, wurde plötzlich ein weiteres, wohl schon längst vorbereitetes Schreiben des Mithridates aus dem Hut gezaubert. Darin hieß es, die Chier würden immer noch heimlich die Römer unterstützen. Doch auch diesmal wolle man großzügig Nachsicht üben und verhängte statt der Todesstrafe ein Bußgeld in der Höhe von 2000 Talenten. Das entsprach 12 Millionen Drachmen - eine enorme Summe! Selbst Athen erwirtschaftete in seiner Blütezeit nicht mehr als 6 Millionen Drachmen pro Jahr. Söldner erhielten damals durchschnittlich eine Drachme pro Tag, sodass mit 12 Millionen Drachmen ein Heer von 35 000 Soldaten ein Jahr lang hätte finanziert werden können. Und vermutlich genau das beabsichtigte Mithridates mit dem Geld zu tun. Schließlich hatte er sich eben erst mit Rom angelegt.
Die Chier fügten sich jammernd den ruinösen Forderungen und trugen Bargeld, Schmuck sowie wertvolle Gerätschaften aus den Tempeln zusammen. Das dicke Ende stand ihnen freilich noch bevor. Als man nämlich allen Männern, Frauen, Kindern und Sklaven befahl, zum Wiegen der Preziosen ins Theater zu kommen, erhob der befehlshabende pontische General Zenobios die verlogene Anschuldigung, die Einwohner würden versuchen zu betrügen. Auf ein Zeichen hin riegelten Soldaten alles ab und separierten die Bürger mit flinken Händen von den Sklaven. Letztere erklärte man für frei, während ihre ehemaligen Besitzer unter Bewachung zum Hafen geführt und per Schiff ins ferne Kolchis am Schwarzen Meer verfrachtet wurden, wo sie bis zu ihrem Lebensende in Bergwerken schuften mussten.
So hatten sich also die Chier - nach einer boshaft inszenierten Prozedur - mit 2000 Talenten bzw. 12 Millionen Drachmen ihren Herrn gekauft: Den König Mithridates von Pontos.
Die einstige Beliebtheit des Sprichworts dürfte darauf zurückzuführen sein, dass viele Zeitgenossen schadenfroh auf die Versklavung der gesamten Bürgerschaft von Chios reagierten; schließlich war die Insel ausgerechnet durch den Sklavenhandel reich geworden. Bereits im 5. Jh. v. Chr. gab es angeblich nirgendwo in der griechischen Welt mehr Haussklaven - außer vielleicht bei den Spartanern. Unter römischer Herrschaft verlagerte sich der Menschenhandel dann zunehmend nach Delos, deren Bevölkerung jedoch bald ein sehr ähnliches Schicksal wie wie jene von Chios erleiden sollte. Und auch hierfür hieß der Verantwortliche Mithridates.
Weiterführende Literatur:
- Adrienne Mayor | Pontisches Gift. Die Legende von Mithridates - Roms größtem Feind | Theiss | 2011 | Meine Rezension | Infos bei Amazon
- Herbert Heftner | Von den Gracchen bis Sulla: Die römische Republik am Scheideweg (133-78 v. Chr.) | Pustet | 2006 | Infos bei Amazon
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sehr interessant geschrieben! chris
AntwortenLöschenDanke!
LöschenDie Drachme war damals noch mehr wert als heute der Euro .
AntwortenLöschenSo ändern sich die Zeiten ;-)
Ja, die Drachme war damals eben noch aus gutem Silber, das einen reellen Wert repräsentiert hat. Heute bezahlen wir hingegen hauptsächlich mit bunt bedruckten GeldSCHEINen, bei denen es uns eben nur so scheint, als ob es Geld sei ;)
LöschenMir scheint, nein, ich bin mir sicher, dass du damit richtig liegst ;o)
LöschenGrisu