Die Lutherbibel bzw. die Vollbibel der Evangelischen Kirche enthielt lange Zeit sogenannte apokryphe ('verborgene') Texte. Diese waren gesondert zwischen dem Alten und dem Neuen Testament platziert, worin sich nicht zuletzt ihre Entstehungszeit wiederspiegelt. Sie schließen nämlich die Überlieferungslücke zwischen diesen beiden großen Bestandteilen der Bibel und erleichtern so das Verständnis des Neuen Testaments.
Bei den Apokryphen handelt es sich um folgende Texte:
⬗ Das Buch Judit
⬗ Die Weisheit Salomons
⬗ Das Buch Tobit
⬗ Das Buch Jesus Sirach / Ben Sira
⬗ Das Buch Baruch
⬗ Der Brief Jeremias (Baruch 6)
⬗ Die beiden Makkabäerbücher
⬗ Stücke zu Ester
⬗ Stücke zu Daniel
⬗ Das Gebet des Manasse
Auch wenn der für diese Schriften gewählte Begriff 'apokryph' relativ alt ist, so ist seine Verwendung nicht ganz glücklich. Die Texte waren nämlich nie 'verborgen' oder gar geheim, sondern jeder Christ konnte sie nach Lust und Laune lesen. Außerdem wird heute die Bedeutung von 'apokryph' im allgemeinen Sprachgebrauch viel weiter gefasst und bezieht beispielsweise auch die sogenannten apokryphen Evangelien mitein, die in der Lutherbibel aber nie enthalten waren. Die von Martin Luther getroffene Auswahl entspricht vielmehr dem Kernbestand des Alten Testaments in griechischer und lateinischer Sprache (Septuaginta und Vulgata). "Kernbestand" deshalb, weil es speziell in der Septuaginta auch noch andere Apokryphen gab, die aber nicht in jeder ihrere Ausgaben enthalten waren bzw. nicht einheitlich überliefert worden sind.
Während die obigen Apokryphen mehr oder weniger immer schon Teil der katholischen Bibel waren (dort gelten sie auch nicht unbedingt als apokryph, sondern eher als deuterokanonisch bzw. zweitrangig), so finden sie sich in den meisten deutschen Bibeln der Evangelischen Kirche, die heute im Umlauf sind, nicht mehr. Hauptgrund dafür ist, dass sie im 19. Jahrhundert auf Betreiben einflussreicher anglikanisch-calvinistischer Bibelgesellschaften nach und nach entfernt wurden. In diesen Kreisen hielt man die Apokryphen für theologisch minderwertig und zu trivial (bereits zu Luthers Zeiten war nicht jeder über ihre Aufnahme in dessen Bibel begeistert). Erst mit der Einheitsübersetzung des Jahres 2017 kehrten sie wieder in überarbeiteter Form zurück. Im gegenständlichen Buch wurden sie überdies von der Evangelischen Verlagsanstalt gesondert und mit einer ausführlichen, knapp 60seitigen Einleitung veröffentlicht. Darin wird in einer auch für Theologie-Laien verständlicher Weise die Entstehungsgeschichte und die Bedeutung der apokryphen Texte der Lutherbibel erläutert. Sehr interessant! Einziges kleines Manko sind hier meiner Ansicht nach ungeschickte inhaltliche Überschneidungen, da mehrere Autoren involviert waren. Den einzelnen Apokryphen selbst wurden ebenfalls Einleitungen spendiert, in denen z.T. recht ausführlich über den Inhalt informiert wird. Für das Textverständnis eine nützliche Hilfe!
Mich persönlich interessieren die Apokryphen vor allem als historische Quellen der Antike. Hierbei gibt es jedoch große qualitative Unterschiede. Während etwa die beiden Makkabäer-Bücher immerhin eingeschränkt meine diesbezüglichen Ansprüche erfüllen (es geht darin u.a. um den jüdischen Kampf gegen die hellenistischen Seleukidenherrscher), so ist die Handlung im Buch Judit weitestgehend fiktiv, auch wenn sie sich vor einem mehr oder weniger historischen Hintergrund abspielt.
Fazit: Ein interessantes, für mich überaus erhellendes Buch. Der Kaufpreis beträgt 34 Euro, was mir durchaus angemessen erscheint.
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Weiterführende Informationen:
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Tja, was zum heiligen Buch gehört und was nicht, ist immer auch eine Frage der Glaubensperspektive ... auch der heute vorherrschende Korantext soll ja erst 1924 in Kairo final zum Druck zusammengestellt worden sein. Die Texte verändern sich also quasi nicht nur in grauer Vorzeit, sondern immer noch, in unserer Gegenwart, vor unser aller Augen.
AntwortenLöschenSehr interessant, bei "apokryph" hätte ich nämlich vor allem an das Judasevangelium und ähnliches gedacht.
AntwortenLöschenServus Hiltibold,
AntwortenLöschenmir haben sie an der Uni (hatte evangelische Theologie als Nebenfach) noch erzählt, dass die Apokryphen aus Luthers Bibelübersetzung zurecht rausgeflogen sind, weil die nicht Gottes Wort seien, sondern Menschenwort. Das ist natürlich eine rein willkürliche/subjektive Auslegung, weil sich in der Bibel auch darüber hinaus viel findet, was wenig vom göttlichen Geist inspiriert wirkt, sondern auch direkt aus dem Mund irgend eines Tratschweibs stammen könnte.
Ich begrüße es auf jeden Fall, dass die Apokryphen in die evangelische Bibel zurückkehren und man sich so auch von der anglikanischen Kirche emanzipiert.
Liebe Grüße und ein schönes Restwochenende
Archi
Man muss die Heilige Schrift auf Knien und mit der "katholischen Brille" lesen, das heißt im Licht der päpstlichen Lehre und der Kirchenväter. Sonst bewahrheitet sich Matthäus Kapitel 13 Vers 44.
LöschenLeser
Das Buch Judith ist - wie alle biblischen Bücher - historisch und keineswegs fiktiv. Die Ereignisse spielten sich zur Zeit des judäischen Königs Manasse ab; der Assyrerkönig Nebukadnezar ist heute vielleicht besser unter seinem assyrischen Namen Asarhaddon bekannt. Seine im Buch Judith berichteten Feldzüge sind historisch sattsam bekannt. Der Feldzug ins Königreich Juda fand wohl statt während der assyrischen Gefangenschaft des Königs Manasse, von der das vierte Buch der Könige berichtet.
AntwortenLöschenLeser
Personen, die im Buch Judit eine wichtige Rolle spielen, wie z.B. der angebliche medische König Arphaxad, sind historisch nicht überliefert. Das gilt auch für seinen General Holofernes, den Judit getötet haben soll.
LöschenÜberdies stimmen etliche weitere Details nicht mit den Kenntnissen der modernen Forschung überein. Nebukadnezar (II.) beispielsweise konnte schlecht in Ninive residiert haben, denn diese Stadt war samt Palastanlagen bereits von seinem Vater zerstört worden. Auch wird Nebukadnezar als Herrscher über die Assyrer bezeichnet, obwohl er primär der König des neubabylonischen Reichs war.
Aus obigen und weiteren Gründen geht man davon aus, dass im Buch Judit verschiedene historische Ereignisse Jahrhunderte später vermischt und in einer mehr oder weniger fiktiven Handlung verdichtet worden sind - was freilich einen wahren Kern nicht ausschließt. Als halbwegs verlässliche geschichtswissenschaftliche Quelle taugt es aber nach meinem Dafürhalten kaum.
Arphaxad ist der bei Herodot genannte Mederkönig Phraortes, Sohn des Deioces, der bereits Ekbatana zur Hauptstadt gemacht hatte. Der Krieg des Assyrerkönigs gegen Phraortes ist auch aus der Profangeschichte (Herodot) bekannt. Wenn es im Buch Judith heißt, dass Arphaxad Ekbatana "baute" ist dies wie an anderen Stellen im Alten Testament auch im Sinne von "befestigen" zu verstehen. Zu dem Punkt wo es heißt, dass Arphaxad die Stadt "Ekbatana" nannte, bemerkt Arndt: "Wie es schon sein Vater Deioces tat".
LöschenSelbstverständlich ist mit dem Assyrerkönig nicht Nebukadnezar (II.) gemeint, denn der war König des Neubabylonischen Reiches. Vielmehr handelt es sich um einen König des Neuassyrischen Reiches, genauer gesagt Asarhaddon, der im Reich Israel Nebukadnezar genannt wurde, was sich auf seine Rolle als Herrscher auch von Babylon bezieht. Tatsächlich kann die Handlung des Buches Judith nur in dieser Zeit stattgefunden haben, während König Manasses sich in assyrischer Gefangenschaft in Babylon befand (siehe 2. Buch Paralipomenon, 33. Kapitel) und sich die Macht des Reiches Juda nach dem Untergang des Nordreichs Israel in dessen Gebiet ausgedehnt hatte (was für die Zeit von Manasses Enkel Josias ausdrücklich bezeugt ist). Der Ort der Handlung, Betulia, liegt in Galiläa. Dass auch Holofernes in assyrischen Quellen unter einem anderen Namen erscheinen dürfte, verwundert nicht. Wird nicht auch der im Alten Testament genannte Assyrerkönig Phul in Keilschrifttexten anders genannt?
Leser
Hier im selben Sinne auch Abt Calmets zur Arphaxad-Frage:
AntwortenLöschenhttps://books.google.de/books?id=pKZeAAAAcAAJ&pg=PA517&lpg=PA517&dq=Herodot+phraortes&source=bl&ots=VsWVx-xybK&sig=KOKzLyU-rpxQqyQseANdj9DEM3c&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwjk9pXW-YnbAhVEGZoKHZpFAygQ6AEIPjAH#v=onepage&q=Herodot%20phraortes&f=false
Leser