Die bekannte britische Historikerin Mary Beard schreibt in ihrem Buch "Die Nase der Kleopatra": "Die prähellenistische Archäologie ist kein besonders freundliches Fach." Wie zutreffend das ist, veranschaulicht besonders die 2001 unter Wissenschaftlern entflammte "Troja-Debatte": Phasenweise hatte diese den Charakter eines heftigen Streits, bei dem sich die Gegner über die Medien mancherlei Unfreundlichkeiten ausrichteten. Kern der Auseinandersetzung war die Frage, ob der schon von Heinrich Schliemann durchwühlte Schutthügel Hisarlık in der West-Türkei tatsächlich mit dem von Homer gezeichneten Bild der spätbronzezeitlichen Stadt Troja konform geht. Manfred Korfmann, Tübinger Professor und von 1988 bis zu seinem Tod im Jahr 2005 Chefausgräber in 'Troja', bejahte dies. Unterstützt wurde er dabei besonders vom Gräzisten Joachim Latacz, der Korfmanns Deutungsweise mit seinem mehrfach neu aufgelegten Buch "Troia und Homer. Der Weg zur Lösung eines alten Rätsels" bei einem relativ breiten Publikum populär machte.
Dem Duo Korfmann-Latacz schlug jedoch auch heftiger Widerspruch entgegen - vor allem in der Person des Tübinger Althistorikers Frank Kolb. Seiner Meinung nach wurden archäologische Befunde absichtlich falsch interpretiert. Ziel sei es gewesen, die Bedeutung des eher bescheiden dimensionierten Grabungsplatzes aufzublasen und so Homers Troja-Erzählung anzupassen, in der nicht von einer kleinen Siedlung, sondern von einer veritablen Metropole die Rede ist.
Zum aktuellen Forschungsstand, dem politischen Missbrauch von Archäologie und der Darstellung der Troja-Debatte in den Medien wird Frank Kolb im folgenden Interview ausführlich Stellung nehmen.
Lieber Herr Kolb, rund eineinhalb Jahrzehnte sind seit dem Höhepunkt der hitzig geführten Troja-Debatte vergangen. Gibt es zwischenzeitlich verlässliche Belege, die eine Identifikation der Ruinen von Hisarlık als Troja zulassen? Oder anders formuliert: Konnte Ihre Kritik, der zufolge es sich gar nicht um die von Homer beschriebene Metropole handelt, sondern eher um ein unwichtiges Nest, widerlegt werden (wie Ernst Pernicka, der Nachfolger von Manfred Korfmann, glaubt)?
In "Spektrum der Wissenschaft" vom 17.11.2016 haben Ernst Pernitzka und Mitarbeiter ein 23 Seiten langes Resüme der Troia-Grabung gezogen, das teilweise der in meinem Buch "Tatort Troia" geübten Kritik Rechnung trägt. So wird konzediert, daß "der letzte Beweis" für die Identifizierung des bronzezeitlichen Ortes auf dem Hügel Hisarlık mit Troia immer noch ausstehe, die Siedlung zwar ein "regionales Zentrum" in ihrer Region, d.h. der Troas, darstelle [was ich übrigens ebenfalls so formuliert hatte. Daß es sich um ein "unwichtiges Nest" gehandelt hätte, habe ich nie behauptet], aber von einer Handelsmetropole, dem Zentrum einer bronzezeitlichen Hanse oder überhaupt einer Handelsstadt ist keine Rede mehr. Auch wird eingestanden, daß der früher bejubelte Siegelfund keine Schriftkultur und Administration bezeuge.
Behauptet wird aber immer noch die Existent einer großen "Untersiedlung", die durch zwei zeitlich aufeinander folgende, aus dem Fels geschlagene Verteidigungsgräben gesichert worden sei. Deren schwankende Dimensionen (1-2m tief, 2-4 m breit) und aus den Grabungen sich ergebender Verlauf spricht jedoch weiterhin eindeutig gegen eine Defensiv-Funktion. Der jüngere Graben ist ohnehin nur auf eine kurze Strecke ergraben, der ältere verläuft im Westen vom Burghügel weg in die Ebene, wo er nicht mehr hätte verteidigt werden können, in Richtung auf ein bronzezeitliches Flußbett. Um als Verteidigungsgraben effektiv zu sein, d.h. eine ringsum geschlossene Befestigungslinie zu bilden, hätte er jedoch an die Burgmauer anschließen müssen, wo nicht die geringste Spur des Grabens gefunden wurde. Dies gilt auch für die hinter dem Graben vermuteten Befestigungsanlagen (Wall und Palisade). Die von Korfmann behauptete, an die Burgmauer anstoßende Siedlungsmauer hat sich ja bereits vor 15 Jahren als Fiktion, nämlich als Entwässerungskanal entpuppt, und die gleiche Funktion hatten m.E. die Gräben, deren Ausschachtung zunächst der Gewinnung von Baumaterial dienen, sodann aber eine Versumpfung des Troia VI-Friedhofes südlich des oberen Grabens und der Ebene am Fuß des Burghügels verhindern und Wasser für die ausgedehnten Agrarflächen im Bereich der Untersiedlung zur Verfügung stellen konnte.
Deren Erforschung stand "im Fokus" der Grabung, veränderte aber keineswegs, wie immer noch behauptet wird, "das Gesamtbild des Ortes völlig". Schon die älteren Grabungen hatten vereinzelte Wohnbauten außerhalb der Burgmauer entdeckt, und auch die Tübinger Troia-Grabung hat nur wenige Häuser - und diese fast ausschließlich nahe der Burg - gefunden, aber durch Zusammenziehen aufeinander folgender Zeitperioden und ein geradezu absurdes, als Rekonstruktion plakatiertes 'Modell' den Eindruck dichter Bebauung über ein großes Areal erweckt. Jetzt werden immerhin "größere Freiflächen zwischen Häusern und Werkstätten" sowie "landwirtschaftlich genutzte Bereiche" konzediert, aber immer noch von einer 20-30 ha großen – allerdings nun den Begriff durch Anführungszeichen als nicht ganz ernst gemeint kennzeichnenden – "Unterstadt" fabuliert. Die bereits vor vielen Jahren eingereichte Dissertation zu diesem zentralen Thema, dem "Fokus" der Grabung, ist bisher freilich nicht publiziert!
Die Behauptung, "in der weiteren Umgebung" habe keine "zeitgleiche Siedlung von ähnlicher Bedeutung" existiert, ist in ihrer mangelnden Präzision irreführend. Seit einiger Zeit haben Feldforschungen und Grabungen im westlichen Kleinasien südlich der Troas zur Entdeckung spätbronzezeitlicher Siedlungen von mindestens gleicher oder eher deutlich größerer Bedeutung als Troia VI/VIIa geführt (s. F. Kolb, Mitteilungen aus dem Heinrich-Schliemann-Museum Ankershagen, Heft 9, 2011, 41-59). Auf dem Burgberg von Pergamon wird eine mehr als 2 km lange und wenigstens 20 ha umfassende Siedlungsmauer nicht mehr ins 7.Jh., sondern zwischen 1800 und 1000 v.Chr. datiert. Im Hermos-Tal ist auf dem Gebirgskamm von Kaymakçı eine anscheinend etwa 75 ha große, spätbronzezeitliche Siedlung entdeckt worden. Ein 8.6 ha messendes Areal wird von einer mit Bastionen bestückten, bis zu 2.5 m dicken Mauer umgeben. In dessen zentralem Bereich liegt wiederum eine innere Zitadelle, wohl eine Residenz. Zum Vergleich: Der ummauerte Bereich auf dem Hügel Hisarlık, die Burg von Troia VI, umfaßt 1.8 ha, und eine Residenz hat man dort nicht gefunden, sondern nur einige große Häuser. Man könnte fortfahren....
Den fehlenden archäologischen Befund versucht man immer noch durch die seit mehr als 100 Jahren strittig diskutierte Herleitung der Namen 'Troia' und 'Ilios' von den in hethitischen Quellen überlieferten Ländernamen 'Taruisa' und 'Wiluša' herzuleiten. Dies ist nicht nur linguistisch höchst problematisch, sondern auch geographisch, denn es handelt sich um zwei verschiedene Länder und nicht um einen Orts- und einen Ländernamen. Taruisa kommt nur einmal vor, Wiluša mehrfach und mit Anhaltspunkten für seine Lokalisierung. Diese deuten allerdings nicht auf das nordwestliche Kleinasien hin, wie die Troia-Grabung immer noch, vor allem dem Hethitologen David Hawkins folgend, behauptet. Dieser glaubte, die ihm bekannten Ländernamen geographisch so einordnen zu können, daß für Wiluša nur Platz in der Troas bleibe. Aber weder die Größe noch die Grenzen der Länder sind zuverlässig bekannt, und manche lassen sich gar nicht einordnen. Die Entdeckung eines spätbronzezeitlichen Pergamon hat das Bild weiter verkompliziert. Mehrere renommierte Hethitologen haben gegen Hawkins Stellung genommen, und kürzlich hat S. Heinhold-Krahmer (Zur Lage des hethitischen Vasalllenstaates Wiluša im Südwesten Kleinasiens, in: S. Aufrère/M. Mazoyer, eds., De Hattusa à Memphis. J. Freu in honorem, Paris 2013, 59-74) überzeugend nachweisen können, daß die vertraglich festgelegten Bündnisverpflichtungen des Herrschers von Wiluša gegenüber dem Hethiterkönig die Lage des Landes in unmittelbarer Nähe der Länder Lukka (Lykien) und Karkiša (Karien) sowie Mira und Arzawa bedingen, mithin im Südwesten Kleinasiens.Dort hat ein Polis-Zentrum und Bischofssitz mit dem griechischen Namen Ilousa wahrscheinlich den Namen des bronzezeitlichen Landes bewahrt.
Den/die Namen der bronzezeitlichen Siedlung(en) auf dem Hügel Hisarlık kennen wir hingegen nicht. Er lautete nicht Ilios/Ilion, wie die Ilias in der Regel (106 mal) den Ort bezeichnet, denn diesen Namen gaben erst die spätestens um 800 eingewanderten 'äolischen' Griechen der von ihnen dort okkupierten oder neu gegründeten Siedlung; sie brachten die Athena Ilias als Hauptgottheit und Schutzgöttin ihrer Polis aus ihrer Heimat mit. Der von Homer auch verwendete Name Troïe ist hingegen ein vom Stammesnamen Troes abgeleitetes Adjektiv ("die Troische") und wird vom Dichter in erster Linie für die angeblich von Troern besiedelte Landschaft (50 mal) sowie gelegentlich (12 mal) für den Zentralort ("die Troische Polis") verwendet. Nachhomerische antike Geographen hatten jedoch ihre Probleme mit der Definition und Abgrenzung der ihnen nur aus der Ilias bekannten homerischen Landschaftsbezeichnung und betrachteten diese als Produkt der epischen, keiner historisch verifizierbaren Periode. Diese Feststellungen waren Ausgangspunkt meiner Überlegungen in einem Aufsatz (Phantom Trojans at the Dardanelles?, in: Talanta 46/47, 2014/15, 27-50), der vermutlich Pernicka und Co. zu ihrem Beitrag in 'Spektrum der Wissenschaft' 2016 bewog. Dort habe ich dargelegt, daß die antiken Autoren außerhalb der epischen Tradition auch nichts von der Existenz von Troern/Trojanern im nordwestlichen Kleinasien wußten, obwohl die Troia-Sage nur von der Vernichtung der zentralen Siedlung berichtet, die Ilias aber prophezeit, daß Aineias und die Dynastie der Aineiaden auch in Zukunft über die Troer herrschen werde. Nun war Aineias freilich laut Ilias eigentlich kein Troer, sondern ein Dardaner und Herrscher über die mit den Troern in Symbiose lebenden Dardaner: "Troes kai Dardanoi" ist eine Standardformel der Ilias. Außer diesen beiden Bevölkerungsgruppen lokalisiert die Ilias aber auch Pelasgoi, Leleges und Kaukones und von diesen angeblich besiedelte Orte, wie etwa Larissa und Thebe, in der Troas. Für die Existenz dieser Völker und Orte in der Troas gibt es außerhalb der epischen Tradition ebenso keine Belege wie für die Troes, wohl aber für ihre Existenz in Griechenland, insbesondere im mittleren und nördlichen Hellas, dem 'äolischen' Sprachgebiet. Entsprechendes gilt für die angeblichen Namen der trojanischen Helden; es gibt keine Troer mit anatolischen Namen: Tros, Antenor, Hektor, Alexandros, die weibliche Form des Namens Priamos etc. sind ebenso wie die griechischen Helden-Namen Achilleus oder Aias auf mykenischen Linear-B-Tafeln für Personal in mykenischen Palästen bezeugt. Dardanos, Aineias und Paris sind anscheinend thrakisch-illyrischen Ursprungs, und sie legen in der Tat Zeugnis ab von einer in der Troas siedelnden, zusammen mit anderen thrakisch-illyrischen Gruppen, wie den Teukroi, eingewanderten balkanischen Bevölkerung. Diese hat im Unterschied zu den imaginären Troern deutliche Spuren in Geographie, Topographie, archäologischem Befund, Sprache, Namengebung und eben auch in der literarischen Überlieferung außerhalb der Epik, z.B. bei dem Mitte des 7.Jhs. wirkenden Dichter Kallinos, hinterlassen: Die Insel Samothrake, die Dardanellen, die tatsächlich exisiterende Polis Dardanos etc. seien beispielshalber genannt. So verwundert es nicht, daß die wahrscheinlich in der ersten Hälfte des 7.Jhs. verfaßte Ilias eigentlich die Dardanidai als Gegner der griechischen Achaioi im sogenannten Troischen Krieg vorstellt: Dardanos ist der Vorfahr der Troer und ihrer Herrscher, der Ahnherr von Tros, Ilos, Laomedon und Priamos. Ilos und Priamos werden als Dardanidai bezeichnet; Aineias ist ein Dardaner und Kommandant der Dardaner bei der Verteidigung von Ilios.
Funde von Keramik balkanischen Typs auf dem Hügel Hisarlık belegen die Präsenz balkanischer Einwanderer spätestens seit ca. 1200, vielleicht aber bereits seit ca. 1250. Sie mögen bereits in dem gegenüber Troia VI stark veränderten Troia VIIa gewohnt haben. In hethitischen Quellen bezeugte balkanische Namen bei den weiter östlich lebenden Kaska lassen auf ein Eindringen balkanischer Elemente in Anatolien spätestens im 13.Jh. schließen. Dardanoi und Teukroi erscheinen in ägyptischen Quellen seit dem 14. Jh. als Angreifer, Dardanoi/Dardania im Siegesbericht des Pharaos Ramses II, über die Schlacht bei Qadesh 1274 als ein Kontingent des hethitischen Heeres zusammen mit anderen Truppen aus anatolischen Regionen. Dardania war m.E. die wahrscheinliche bronzezeitliche Bezeichnung der sogenannten Troas seitens der Hethiter. Die einwandernden Griechen trafen auf eine balkanische Bevölkerung.
Wie aber gelangten die Troes in die Legende vom Troianischen Krieg? Ähnlich wie z.B. die südwestkleinasiatischen Lykier, deren Kampfkraft bei der Eroberung von Sardes und der Verteidigung ionischer Poleis gegen die Angriffe der Lyder der Ilias-Dichter wohl noch um die Mitte des 7.Jhs. in seiner vermutlichen westkleinasiatischen Heimat kennengelernt hatte; er gab diesen lykischen Söldnertruppen die Rolle der wichtigsten Verteidiger 'Troias' neben den Troern und Dardanern. In Gestalt von Namen gegeneinander kämpfender Heroen (Phaistos-Idomeneus-Asios; Tlepolemos-Glaukos) sind auch Kriege zwischen kretischen Orten sowie zwischen Rhodos und den Lykiern vom Dichter in den Kampf um 'Troia' transponiert worden. Diese Transpositionstechnik betrifft auch den Kern der Sage: Als die Griechen, die Achaioi, sich auf dem Hügel Hisarlık niederließen, trafen sie auf balkanische Einwanderer, wohl Dardaner. Es mag dabei zu kriegerischen Ereignissen gekommen sein, die einen Niederschlag in der Troia-Legende gefunden haben. Möglicherweise haben die Achäer dort einen Ort namens Dardania erobert, auf keinen Fall aber einen Ort namens Ilios, denn dann wären ihre Gegner entsprechend griechischer Namengebung die Ilieis gewesen. Die epische Überlieferung nennt sie aber stets nur Troes, und Athena Ilias, die eigentlich als Schutzgöttin der Siedlung hätte auftreten müssen, unterstützt nicht die Troes, sondern im Gegenteil die Angreifer, die Achäer, nicht Hektor, sondern Achilleus. Es ist offensichtlich, daß die epische Tradition sich hier in Widersprüche verwickelt, die aus den Wurzeln der Überlieferung resultieren müssen. Athena Ilias kann ursprünglich nicht die Hauptgottheit einer troischen Siedlung gewesen sein, sondern nur der neu gegründeten griechischen Polis. Der Kult der Athena Ilias ist nur für zwei 'äolische' Poleis in Mittelgriechenland bezeugt, und zwar in der Phokis und der benachbarten achäischen Phthiotis, der Heimat Achills. Dieser sind Völkerschaften und Orte benachbart, welche die Ilias in die Troas transponiert: Thebe, Larisa, Pelasger, Leleger. Achill tötet einen Priamos-Sohn namens Dryops; die Dryopes waren ein Stamm in der unmittelbaren Nachbarschaft von Achill's Heimat.
Nur die Troes fehlen auch in Griechenland, wohl weil Achill mit seinen Achaioi einen benachbarten Stamm dieses Namens mit seinem Anführer Hektor vernichtend geschlagen hat, so daß er von der ethnographischen Bildfläche verschwand, ein Schicksal, das auch anderen in der Ilias genannten griechischen Stämmen widerfuhr: den Danaoi, Epeioi, Myrmidones und Hellenes, die nur in der Bezeichnung für alle Griechen weiterlebten. Andere für die frühe Eisenzeit historisch bezeugte Stämme, wie die Kaukones, die Enetes und Azanioi, verschwanden gleichfalls als ethne zusammen mit ihrem Namen. Der Kampf Achills und seiner Achaioi gegen Hektor und seine Troes in Mittelgriechenland bildet den Kern der Troia-Legende. Die den Hügel Hisarlık besiedelnden Griechen haben die Überlieferung über diesen Krieg ins nordwestliche Kleinasien getragen, in ihre Eroberung dieser Landschaft integriert und an der dortigen imposanten Burgruine festgemacht. Die Ilias stellt eine komplexe Komposition dar, in welche unterschiedliche kriegerische Traditionen und Legenden transponiert und miteinander verschmolzen worden sind. Vergleichbares findet man in der Nibelungen-Saga, deren ursprünglicher historischer Schauplatz der Rhein und westlich benachbarte Regionen waren. Aber das Gedicht hat den tödlichen Konflikt zwischen Burgunden und Hunnen in Attilas Residenz in Cran, dem römischen Solva, an der mittleren Donau verlegt. Nicht auszudenken, wenn wir in diesem Fall nicht auch eine zuverlässige historische Überlieferung hätten. Archäologen hätten dort mit ziemlicher Sicherheit burgundische Schwerter etc. als Indizien für die historische Zuverlässigkeit des Epos' gefunden. Im Wikipedia-Artikel zu Troia und dem Troia-Streit ist diese im Kern schon von der älteren philologischen, aber z.B. jüngst auch von Thomas Szlezák vertretene Auffassung leider nicht erwähnt, während Joachim Lataczs Thesen unverdientermaßen ausführlich wiedergegeben werden.
Nur die dunkelrot markierten baulichen Überreste können mehr oder weniger dem angeblich homerischen Troja zugeordnet werden | Quelle: Wikimedia.org | Autor: Bibi Saint-Pol |
Wie zufrieden sind Sie eigentlich mit der Darstellung der Auseinandersetzung auf Wikipedia und in der Presse? Ihre Kritik wurde ja von einigen Journalisten sofort positiv aufgegriffen, andere hingegen waren Ihnen weitaus weniger gewogen.
Insgesamt bemühen sich die Wikipedia-Autoren um eine sachliche Darstellung der Problematik. Dies kann man von manchen Medien, wie dem notorisch unzuverlässigen, einseitigen und auf Sensationen bedachten 'Spiegel', nicht behaupten. Die anfangs auf den Korfmann-Verbündeten Michael Siebler, der ein auf Korfmanns angeblichen Ergebnissen beruhendes Troia-Buch verfaßt hatte, sich stützende Frankfurter Allgemeine Zeitung (nicht zuletzt in Gestalt des Feuilleton-Chefs P. Bahners) hat hingegen im Laufe der Zeit eher Autoren wie Uwe Walter Raum gegeben, welche meine Auffassung unterstützen. Es ist freilich so, daß in vielen oder gar den meisten Medien eine von Unkenntnis und mangelhaftem kritischem Denken gekennzeichnete einprägsame Version eines glanzvollen Troia und eines großen Troianischen Krieges bevorzugt wird. Der Troia-Mythos ist in der breiten Öffentlichkeit wirkmächtiger als die nüchterne Realität; das läßt sich wohl kaum ändern.
Die Türkei scheint die Archäologie bzw. die Altertumsforschung schon seit geraumer Zeit vor ihren politisch-ideologischen Karren zu spannen. Das mündet beispielsweise in der Darstellung, die Türken seien das bedeutendste Volk der Menschheitsgeschichte, welches Europa einst die Kultur brachte.
Daß die Türkei aus nationalistischen Gründen am oben erwähnten Troia-Mythos festhalten will, jüngst auch an seiner Deutung als Verteidigung Anatoliens gegen westliche Invasoren, hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß dort seit den Zeiten Atatürks die Grabungsarchäologie unter dem Diktat zweier politischer Fiktionen steht: zum einen der Behauptung, die Zahl der eingewanderten türkischen Nomaden sei so gering gewesen, daß in Wirklichkeit die Vorfahren der heutigen Türken im Boden Anatoliens zu suchen seien, insbesondere in der hethitischen Kultur; zum anderen der Behauptung, daß der Ursprung der fälschlich als griechisch bezeichneten Kultur im ionischen West-Kleinasien, mithin in Anatolien, zu suchen sei, die Ionier in Wirklichkeit Anatolier waren, somit auch die 'griechische' Sprache anatolischer Herkunft sei und Homer ein anatolischer Dichter, im Grunde ein Türke (zur Atatürk-Zeit hat man seinen Namen tatsächlich vom türkischen Namen Ömer hergeleitet). Daher sei auch der Ursprung der europäischen Kultur in der Türkei zu suchen. Beide 'Interpretationen' sind von Korfmann mit Äußerungen im Stil einer Blut- und Boden-Ideologie in seinem Vortrag im Braunschweiger Dom anläßlich der Troia-Ausstellung vorgetragen und als Argument für eine Aufnahme der Türkei in die EU verwendet worden. Das erschreckende intellektuelle Niveau seiner Ausführungen schlug sich in der empörten Reaktion der Zuhörer und Medien nieder.
Wie reagierte die offizielle Türkei auf Ihre Kritik?
Als ich in einem Zeitungsartikel betonte, daß die griechische Kultur und ihr Beitrag zur europäischen Kultur im Ägäisraum zu verorten seien, warf das türkische Kulturministerium mir vor, ich hätte die Türkei beleidigt; ich wies dies zurück. Aber meine eigenen Forschungen in Lykien im Südwesten der Türkei wurden daraufhin nur mit Einschränkungen genehmigt.
Bei der Troja-Forschung spielten nicht nur die Interessen der Politik, sondern auch die von deutschen Großsponsoren eine wichtige Rolle, nicht wahr?
Ja, mit der Türkei-Agenda verbunden waren die handfesten wirtschaftlichen Interessen des die Korfmann-Grabung mit beträchtlichen Summen fördernden Daimler-Konzerns, unter der Ägide des damaligen Konzern-Chefs Ernst Reuter, der seine Kindheit in der Türkei verbracht hatte. Damit waren wiederum politische Interessen der baden-württembergischen Landesregierung (Erwin Teuffel) verknüpft. Ferner trug die gemeinsame Mitgliedschaft Korfmanns und Hertha Däubler-Gmelins in der Tübinger SPD zur Unterstützung des Ausgräbers durch Parteigrößen bis hin zum damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau bei. Es kam zur nochmaligen Herstellung eines breits kostenlos erstellten virtuellen Modells von Troia VI mithilfe eines vom Bundesministerium für Bildung und Forschung ausgeschriebenen Millionenprojektes. Unglaubliche Intrigen führten bis zur Erpressung des Braunschweiger Museums-Direktors Gerd Biegel von politischer Seite, mit der Drohung, man werde seine Amtszeit beenden, falls er an seiner an mich ergangenen Einladung zu einem Vortrag festhalte (Vorangehendes alles im Detail nachzulesen einschließlich der eidesstattlichen Erklärungen der Betroffenen in meinem Buch "Tatort Troia" 205ff., besonders auch 219f.).
Die Türkei warf im Jahr 2016 das Österreichische Archäologische Institut hochkant aus Ephesos hinaus (siehe dazu auch das unten verlinkte Interview mit der Grabungsleiteirin Sabine Ladstätter). Was halten Sie davon?
Die Aufkündigung der österreichischen Grabungen in Ephesos – mittlerweile rückgängig gemacht – geht nicht unmittelbar auf ideologische Ansichten, aber natürlich letztlich auch auf die österreichische Ablehnung einer Aufnahme der Türkei in die EU zurück. Wegen der politischen Entwicklung in der Türkei hat aber der belgische Archäologe Marc Waelkens seine jahrzehntelangen Forschungen im pisidischen Sagalassos aufgegeben.
Ich bedanke mich sehr, dass Sie sich die Zeit genommen haben, meinen Lesern und mir so ausführlich Auskunft zu geben.
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➽ https://hiltibold.blogspot.com/2018/06/troja-streit-frank-kolb.html |
Weiterführende Informationen zum Gesprächspartner:
- Profil auf der Internetseite der Uni Tübingen
- Buch: "Tatort Troia - Geschichte, Mythen, Politik"- bei Amazon
- Rezension des Buchs "Tatort Troia" von Eberhard Zangger
Weitere interessante Themen:
- Intrigenstadl Troja-Forschung: Ein Interview mit dem Geoarchäologen Eberhard Zangger
- Kontroverse Ephesos-Forschung: Ein Interview mit der Grabungsleiterin Sabine Ladstätter
- Sondengehen und Bürgerforschung, Ärgernis oder Chance? - Ein Interview mit dem Archäologen Raimund Karl (Teil 1)
- Von Spartacus bis Herodot: Ein Interview mit dem Althistoriker und Übersetzer Kai Brodersen
Homer wandelt sich also in Herrn Erdogans Staat zu Ömer ...
AntwortenLöschenAlso wenn man mich fragt, dann ist das sogar noch wesentlich dämlicher als die Wandlung von Arminius zu Hermann.
Grüße
P. Jäger
Frank Kolb hat mit seiner Kritik an der oft zu selbstsicher vorgenommenen geographischen Verortung bestimmter Völker und Kulturen absolut recht. Leider werden viele der Ungereimtheiten in der Literatur zugunsten eines einfacheren Bildes vom bronzezeitlichen Kleinasien beiseite geschoben. Nicht zuletzt im Neuen Pauly.
AntwortenLöschenDas Thema beinhaltet schon sehr viele Länder- und Personenennamen, von denen die wenigsten Leute je etwas gehört haben und die auseinanderzuhalten schwierig ist. Auch für mich, und ich habe immerhin Geschichte studiert. Deshalb wundert es mich nicht, dass Fachfremde, besonders aber Journalisten, eine einfache Variante des Mythos bevorzugen.
LöschenDer Pauly und dessen Autoren sind ein ganz spezieller Fall. Darüber könnte man so einiges schreiben....
Ich habe Kolbs Troja-Buch gelesen. Wahre Abgründe tun sich darin auf. Die Türkei ist in wissenschaftlicher Hinsicht kein übermäßig verlässlicher Partner. Heute, unter der Herrschaft Erdogans, noch weniger als vor zwei Jahrzehnten. Womit ich bei dem Punkt wäre, der schon beim Interview mit Frau Ladstätter deutlich angesprochen worden ist: Kein europäisches Steuergeld mehr für Grabungsprojekte in postdemokratischen Staaten, die die Forschungsergebnisse missbrauchen oder die sogar direkt unredlichen Einfluss auf die Forschungsarbeit nehmen! Wer in der Türkei graben will, soll sich das von Daimler, anderen Konzernen oder per crowdfunding finanzieren lassen.
AntwortenLöschenGero
Die SPD-Seilschaften also wieder einmal. Diese Partei wird Deutschland wahrscheinlich noch mitregieren, selbst wenn sie aus dem Bundestag geflogen ist. Quasi als außerparlamentarische Schattenregierung.
AntwortenLöschenAngesichts der großen Beteiligungen, die die SPD über diverse Firmenkonstrukte an vielen Zeitungen und Buchverlagen hält (siehe DDVG!), würde es mich wenig überraschen, wenn sie ihre entsprechende Macht nutzt, um auch gegen Wissenschaftler zu schießen, die ein SPD-Parteimitglied kritisieren. Eventuell war das auch in diesem Fall so. Auf jeden Fall ist mir ein Herr Patrick Bahners bereits mehrfach als vollkommen merkbefreiter Krawallschreiber aufgefallen.
MfG,
David Storck
Die behauptete Unterstadt von Troia ist mir auch schon immer suspekt vorgekommen.
AntwortenLöschenDort ist einfach viel zu wenig aus der Zeit von Troia VII.
HOMER = ÖMER ?!?
AntwortenLöschenHut ab, so einen geistigen Spagat muss man doch erst einmal zustande bringen!
Interessant, habe davon vor vielen Jahren etwas auf SpOn gelesen, aber nicht so recht durchgeblickt, worum es eigentlich ging. Jetzt ist es mir klar. Ich hätte mir nicht gedacht, dass die Frage Trojas dermaßen komplex ist. Gemeinhin wird schließlich gerne so getan, als ob alles geklärt ist.
AntwortenLöschenHagen
was sagt raoul schrott dazu? ;o) chris
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