Montag, 11. November 2019

Der Politaktivist Thomas Meier und die Brachial-Politisierung der Archäologie durch die "Berner Erklärung"


Die Deutsche Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte (DGUF) verbreitet einen Text, in dem ein gewisser Thomas Meier die kürzlich verfasste "Berner Erklärung der European Association of Archaeologists" wortreich verteidigt.
Meier und Konsorten schwebt de facto vor, dass Archäologen bei verschiedensten gesellschaftlichen Fragen aktiv Einfluss auf den politischen Entscheidungsprozess nehmen, anstatt neutral zu bleiben und sich - ihrem Job als Wissenschaftler entsprechend - auf das Generieren von verlässlichen Fakten zu beschränken. Mehr noch, man versteigt sich dazu, Neutralität mit Opportunismus gleichzusetzen, der auf schlechtem Gewissen beruhe. Und des Weiteren heißt es:

Dass Archäologie sich explizit politisch positioniert, ist in der deutschsprachigen Wissenschaft noch lange nicht widerspruchslos akzeptiert  [...]

Mit der Kraft der historischen Analyse kann die Archäologie untersuchen, wie soziale Veränderungen abliefen und unter welchen Bedingungen wie stattfinden – so etwa Flucht, Migration, gewaltsamer Konflikt, De-Industrialisierung, Globalisierung oder Digitalisierung. Aus diesem Wissen heraus kann die Archäologie Wege vorschlagen, wie das Wohlergehen einer pluralistischen Gesellschaft auf friedliche Weise erreicht werden kann. Diese Lehren aus der Vergangenheit schließen die Werte der Gleichheit und Vielfalt mit ein. [...] 

Kulturelles Erbe steht vielen Interpretationen und Sichtweisen offen. Einige davon fördern derzeit einen wachsenden und spaltenden historischen Revisionismus.

Schlau formuliert, aber leicht durchschaubar: Zuerst die Freiheit der Forschung (und an anderer Stelle auch die Demokratie) preisen, nur um dann sogleich selbst von der Meinungsfreiheit gedeckte Meinungen, die einem persönlich nicht in den Kram passen, mit moralisch aufgeladenen Schlagwörtern pauschal zu delegitimieren. Der klassische "Ja, aber"-Rhetorik-Schmäh also. Oder frei nach einem ehemaligen Reichstagspräsidenten und Liebhaber auffälliger Uniformen: Welche Sichtweisen und Interpretationen legitim sind, bestimmen wir. "Spaltung", also nichts anderes als unterschiedliche Meinungen und die damit verbundene lebendige Debatte, soll durch einen aufgezwungenen Konsens ersetzt werden. 
Der Präsidenten des Deutschen Hochschulverbandes, Professor Bernhard Kempen, hat diese Entwicklung vor nicht allzu langer Zeit folgendermaßen beschrieben:

Die Toleranz gegenüber anderen Meinungen sinkt. Das hat auch Auswirkungen auf die Debattenkultur an Universitäten.

Nun zum Begriff "Revisionismus" bzw. 'Geschichtsrevisionismus': Dabei handelt es sich um ein typisch deutsches Pejorativ (das pikanterweise überdies dem vom Autor so vollmundig eingeforderten "Pluralismus" widerspricht). So gut wie überall sonst auf der Welt wird "Revisionismus" hingegen wertneutral verwendet. Zurecht, denn gerade der Forschungsstand in notorisch empiriearmen Fächern - wie es die Geschichtswissenschaft und ihre Hilfswissenschaften sind - muss zwingend einer ständigen Revision unterzogen werden. Wer das ablehnt - oder auch nur in Frage stellt - ist kein Wissenschaftler, sondern ein Ideologe, der die Wissenschaft als Werkzeug missbrauchen möchte, um einen Konsens entsprechend seiner Weltanschauung zu forcieren. So jemand sollte schleunigst seinen Doktorhut abgeben und sich als politischer Lobbyist oder Aktivist registrieren lassen.

Der geneigte Leser kann sich wohl vorstellen, wohin jene Türsteher-Attitüde führt, wie sie von Meiers Rechtfertigungsschreiben zwischen den Zeilen ausgedünstet wird. Man muss sich ja nur einmal diverse Elaborate aus Archäologie bzw. Geschichtswissenschaft der letzten Jahre vergegenwärtigen, um entsprechende Tendenzen zu erkennen. Beispielsweise wird von einigen Pseudoschlaubergern der dramatische Niedergang des Römischen Reichs - dessen unmittelbare Hauptursache hinlänglich bekannt ist - plötzlich als "Transformation" bezeichnet. Diese z.T. auch ideologisch motivierte Relativierung bzw. Beschönigung einer für die allermeisten Bewohner des Reichs extrem negativen Entwicklung ist schon sehr ulkig. Weil da könnte man ja hergehen und einen Vollbrand, in dessen Verlauf sich ein Haus in einen Haufen Asche und Schutt verwandelt, genauso nennen.

Übrigens: In Meiers Text kommt das politische Buzzword "Populismus" in verschiedenen Formen zehn Mal vor - und das selbstverständlich in einem warnenden Kontext. Hingegen nach "Religion" - mit der sei einiger Zeit wieder zunehmend bitterböses Schindluder getrieben wird - sucht man vergebens. Eine überaus auffällige und beredete Auslassung seitens des sich um Europa so besorgt gebenden Autors. Schließlich bildet gerade die Religion eine kontinuierliche Verbindungslinie durch die Jahrtausende und ist in der archäologischen Arbeit dementsprechend allgegenwärtig. 

Den Vogel schießt der Autor freilich ab, wenn er sich als Archäologe, "Kraft der historischen Analyse", dazu berufen fühlt, Ratschläge zu Themen wie der sogenannten "Digitalisierung" (ein dümmliches Buzzword) zu geben. Was würden er wohl dazu sagen, wenn umgekehrt Programmierer, 'Kraft des Debuggings', Archäologen erklären, wie sie ihre stratigraphischen Befunde zu interpretieren haben?
Wofür halten sich Meier und seine Gleichgesinnten eigentlich? Für Universalgelehrte in der Tradition von Leonardo da Vinci? Was für eine Hybris, was für schwindlige Wichtigtuer.
Auf welchem wissenschaftlichen Niveau sich Meier in Wirklichkeit bewegt, kann man freilich an dem Umstand ablesen, dass er sich in seinem Schrieb nicht entblödet, als Argumentationshilfe ausgerechnet die allwissende Müllhalde Wikipedia zu bemühen. Eine Quelle, die höchstens halbwüchsige Schüler und recherchefaule Käseblatt-Journalisten als reputabel bzw. zitierfähig betrachten.

Zur Ehrenrettung der Archäologie insgesamt sei gesagt: Es gibt durchaus Archäologen, die mit Thomas Meiers Ergüssen und der "Berner Erklätung" herzlich wenig anzufangen wissen, da sie erkennen, was hinter dem orwellschen Neusprech in diesen Texten tatsächlich steckt: Nämlich eine einseitige politische Positionierung und das Einschwören der Archäologen-Community genau darauf. Ein Archäologe, mit dem ich darüber in den letzten Tagen korrespondiert haben, kommentierte den Fall so:

Vor allem werden es junge Berufskollegen sein, die sich der Erklärung anschließen, denn sie stehen aufgrund ihrer oft prekären beruflichen Situation unter Konformitätsdruck. Viele von ihnen werden, weil sie den Inhalt bestenfalls überfliegen, auch schlicht und ergreifend nicht bemerken, dass es dem Hauptautor, mit seinen durchaus geschickt gewählten Formulierungen, gar nicht so sehr um die Verteidigung der Meinungsfreiheit im Wissenschaftsbetrieb, sondern um das Produzieren von Argumenten für den politischen Meinungskrieg geht. Welche Positionen dabei in Fragen wie Klima und Energiewende gestärkt werden sollen, die kritischen oder die des Mainstreams, muss ich Ihnen sicher nicht extra erklären. Mit ergebnisoffener Forschung lässt es sich allerdings nicht unter einen Hut bringen, wenn Archäologen sich als "Dienstleister" von politischen Parteien, NGOs und Aktivisten andienen. Letztendlich ist diese Entwicklung eine Katastrophe und wird die Glaubwürdigkeit unserer Zunft nachhaltig beschädigen, so wie schon andere Fachbereiche durch die steigende Politisierung in den letzten zwei Dekaden beschädigt worden sind [...].

Interessant hieran ist übrigens, dass sich Lutz Fiedler, Professor des Landes Hessen für urgeschichtliche Archäologie, kürzlich in einem Interview sehr ähnlich geäußert hat. Bezüglich bahnbrechender Fossilienfunde in Deutschland erklärte er:

Leider klebt der Mainstream der Fachkollegen noch immer an der bisherigen Out-of-Africa-Theorie; jüngere Kolleginnen und Kollegen mit alternativen Erklärungsmodellen haben seit Jahren durchaus schlechte Karrierechancen.
Es lastet ein existentieller Druck besonders auf den jüngeren Archäologie-Kollegen. Sie machen sich große Sorgen wegen der existenzverunsichernden Zeitverträge und der umfangreichen Forschungsanträge zur Drittmittelbeschaffung. Es gibt auch ideologisch einen enormen Anpassungsdruck seitens der herrschenden Wissenschaftsdoktrin.

Der Experimentalarchäologe Achim Werner wiederum meinte im Vorjahr in einem Interview mit mir:

Das Fach Archäologie ist ein „Haifischbecken“, wie in den meisten Berufen fürchtet jeder, aufgrund von Kritik seinen Job zu verlieren bzw. überhaupt eine Stelle oder einen Auftrag zu bekommen. 

Und ausgerechnet im Angesicht dieses wissenschaftsfeindlichen Klimas kommt nun der verkappte Politaktivist Thomas Maier mit der "Berner Erklärung" daher und möchte unter Zuhilfenahme von Schmähvokabeln wie "Revisionismus" Abweichler auf Linie bringen bzw. ihm nicht genehme Ansichten ächten.

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28 Kommentare:

  1. Ein Unterstützungsaufruf für das durchsetzen der Politik von Rot-Grün ist das, mehr nicht. Hinterlistiger geht es kaum noch. Solche Irrlichter müssen wir mit unserem Steuergeld aushalten.

    Gero

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    1. Noch etwas: Wenn er vor Populismus warnt, dann meint er damit doch sicher auch den Atomausstieg durch die Merkel-CDU, als nach dem Fukushima-Unglück die Umfragewerte der Grünen sprunghaft angestiegen sind - oder? ;-)

      Gero

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  2. Hat das wirklich ein Archäologe geschrieben? Es liest sich nämlich streckenweise wie die Abschlusserklärung eines evangelischen Kirchentags ....
    Fez

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    1. Genau, nur ohne Religion. Also genau so wie die Evangelische Kirche mittlerweile insgesamt gestrickt ist.

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    2. das wort heimat kommt im ersten text auch kein einziges mal vor. stattdessen das wort nation bzw. national dreimal in einem negativen zusammenhang, niea aber positiv. das und das restliche wortgeknatter lässt gewisse rückschlüsse zu, weil zufall wird das genausowenig wie das ausklammern von religion sein, ist doch gerade sie ein dauerbegleiter der archäologischen arbeit. grüße aus der schweiz , chris

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  3. Sie politisieren auch jetzt schon ständig in der Öffentlichkeit, aber wahrscheinlich wollen sie ihr Treiben mit dieser Erklärung auf eine formelle Basis stellen.

    Ich bin früher vielen Archäologen aut Twitter gefolgt, aber habe die Mehrheit wieder von meiner Liste gestrichen, weil die seit ein paar Jahren immer öfter parteipolitische Dinge gepostet und geliked haben. Mehrfach waren sogar Gewaltaufrufe darunter. Eigentlich unfassbar, was für radikalisierte Idioten an den Unis mittlerweile herangezüchtet werden.

    Der Wanderschmied

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    1. Kann ich bestätigen. Losgegangen ist das bei uns 2015, mit der Flüchtlingskrise und hat sich mit den daraus resultierenden Wahlerfolgen der AFD gesteigert. Im anglo-amerikanischen war die Wahl von Trump 2016 das Startsignal für das ständige Politisieren in den sozialen Medien.
      Ich bin weder ein Trump- noch ein AFD-Freund, aber ständig überall Politik reinzumengen geht gar nicht. Damit vergiftet man das soziale Miteinander.

      RR

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  4. Die Berner Erklärung, die sich ein paar Politruks ausgedacht haben müssen, hat mit Demokratie ungefähr so viel zu tun wie das zweite D im Kürzel DDR.

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  5. Wissenschaft und Politik gehören voneinenander getrennt wie Staat und Kirche.

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  6. Teiles des archäologischen Twitter-Zirkels heulen gerade auf wegen deinem Beitrag
    Der wäre polemisch ;-)

    Der Wanderschmied

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    1. Selbstverständlich ist meine Kritik auch polemisch :)
      Und wenn deshalb ein paar Leute in ihrer Twitter-Blase beschleunigt im Kreis springen, dann ist das nur natürlich. Getroffene Hunde bellen halt.

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  7. Die argumentieren, Archäologie wäre immer schon politisch gewesen. Als ob etwas gerechtfertigt werden könnte, bloß weil es immer schon existiert hat. Erklären wir deshalb auch Wissenschaftsbetrug für legitim, der so alt ist wie die Wissenschaft selbst?

    Außerdem räumt selbst Maier in seinem mühsamen Geschreibsel ein, dass man sich nach 1945 und wegen den daraus gezogenen Lehren bereits auf eine Position der Neutralität in der Archäologie beschränkt hat. Aber scheinbar sehen sich ein paar Archäologen nach der guten Alten Zeit zurück. Es war eben nicht alles schlecht, unter dem Führer.

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    1. >> Erklären wir deshalb auch Wissenschaftsbetrug für legitim, der so alt ist wie die Wissenschaft selbst? <<

      Ja, neuerdings schon, siehe Giffey.
      https://www.tagesspiegel.de/wissen/plagiierte-dissertationen-beim-doktor-wirkt-eine-fatale-allianz/25211204.html
      https://www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/franziska-giffeys-doktortitel-plagiatsjaeger-kritisiert-entscheidung-der-fu-berlin-a-1294425.html

      Gero

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  8. Archäologen können privat politisch sein so viel sie wollen. Ihre Arbeit haben sie aber davon zu trennen. Die Archäologie ist stark von einer gedeihlichen Zusammenarbeit mit den Bürgern und Bürgerinnen abhängig, wenn aber ihre Vertreter als verlängerte Arme von Ideologien und Politik wahrgenommen werden, dann wir das negative Auswirkungen auf diese Zusammenarbeit bzw. die Akzeptanz der Archäologie insgesamt haben. ZB welcher Betroffene würde denn mit Archäologen zusammenarbeiten wollen, die einen Windenergiepark vor seiner Haustür mit irgendwelchen historischen Vergleichen schönreden?

    Guinevere

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  9. Johanna Streeruwitz13. November 2019 um 00:18

    Es kommt sehr darauf an, wie man "politisch" definiert. Natürlich können archäologische Befunde politische Rückschlüsse implizieren. Das lässt sich nicht verhindern, ist aber auch nicht das Problem, sondern wenn Archäologen Befunde so trimmen, dass sie dem eigenen Weltbild ensprechen. Jeder Archäologe weiß, dass er das nicht darf, trotzdem geschieht es eigentlich ständig im Rahmen der archäologischen Arbeit. Es ist eine menschliche Schwäche, "Beweise", die die eigene Sichtweise zu untermauern scheinen, weniger kritisch zu hinterfragen. In Kenntnis dieser Schwäche sollte man umso mehr Wert darauf legen, sich nicht politisch von Parteien instrumentalisieren zu lassen. Die Berner Erklärung der EAA erweckt mMn leider nicht glaubhaft den Eindruck, das berücksichtigen zu wollen.

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  10. "Digitalisierung"

    Hier ist der Zug für Deutschland längst abgefahren, weil wir nicht in die entsprechende Forschung frühzeitig investiert haben, sondern lieber unnütze Schwafler wie diesen Meier subventionieren mussten und immer noch müssen.
    Statt STEM-Fächer zu fördern, haben wir den Geisteswissenschaftlersektor aufgeblasen. Und genau die wollen uns jetzt erzählen, was zukünftig zu machen ist? Ich könnte sie ungespitzt in den Boden rammen!

    Julian J.-G.

    PS: Schönes Blog!

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  11. 1. Teil

    Ich freu mich, dass mein Beitrag in den Archäologischen Informationen
    hier so lebhaft diskutiert wird. Das gehört zu einer offenen und
    pluralen Gesellschaft unbedingt dazu, für die sich die Berner Erklärung
    der EAA ja gerade stark macht. Dazu gehört natürlich auch, andere
    Meinungen auszuhalten und sich mit deren Argumenten auseinanderzusetzen,
    weshalb ich hier gerne in eine Sachdiskussion einsteige, zumal mein Text
    leider einige Missverständnisse produziert zu haben scheint.

    In ihrer Berner Erklärung bezieht sich die EAA auf das moderne
    Verständnis von Demokratie, die weit mehr ist, als nur die Herrschaft
    der Mehrheit. Sondern Demokratie bedeutet ebenso die Achtung der
    Menschenrechte für Jedermann/frau (was natürlich auch die
    Religionsfreiheit einschließt), den Schutz von Minderheiten, das
    Akzeptieren von Opposition, die Teilung der drei Gewalten und
    Rechtstaatlichkeit sowie Meinungs-, Presse und akademische Freiheiten
    (was alles drei verschiedene Dinge sind). Auch bedeutet Demokratie
    nicht, dass jede/r tun und sagen kann, was sie und er will, sondern es
    gibt Leitplanken, deren wichtigste ist, dass die eigene Freiheit dort
    ihre Grenzen findet, wo sie die Rechte anderer verletzt. Was diese
    Rechte sind, ist in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und
    ihren Nachfolge-Erklärungen nachzulesen.

    Insofern - auch das macht die Berner Erklärung deutlich - müssen
    Diskussionen und Auseinandersetzungen auch Grenzen haben, wenn nicht die
    Gesellschaft und ihre Offenheit in Gefahr geraten sollen. Dazu gehört,
    dass man dem anderen zuhört und ihn zunächst einmal zu verstehen
    versucht, vor allem aber, dass die Diskussion mit Argumenten geführt
    wird und nicht mit Angriffen gegen die Person oder einzelne Gruppen,
    indem diese erniedrigt werden. Letzteres ist dann natürlich nicht mehr
    durch die Ideale einer offenen Gesellschaft und einer Meinungsfreiheit
    gedeckt, denn die verbale oder tätliche Erniedrigung des Gegenüber
    verletzt die Menschenwürde. Deshalb wendet sich die EAA auch gegen jeden
    Gebrauch von Geschichte, um Gesellschaften zu teilen oder
    Menschen(gruppen) ganz gleich aus welchen Gründen zu erniedrigen. Das
    wären dann wesentliche Merkmale von Populismus, der unter anderem gerade
    nicht auf Argumente und Sachdiskussion, sondern auf Emotionen und
    Angriffe in personam setzt.

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    1. 2. Teil

      Auch wendet sich die Berner Erklärung gegen jeden revisionistischen
      Gebrauch von Geschichte. Damit ist freilich nicht gemeint, dass die
      Interpretationen von Geschichte nicht immer wieder revidiert werden
      müssen - die früher einmal so bezeichnete Völkerwanderungszeit nun als
      Transformationsepoche zu verstehen, ist genau so eine Revision eines
      überholten Geschichtsbilds, nachdem sich herausgestellt hat, dass es
      "die Völker" gar nicht gab, sondern sie erst sehr viel später erfunden
      wurden, dass auch bei weitem nicht so viele Leute wanderten, wie
      einstmals angenommen und dass die Zeit zwar sicherlich vor allem mit
      sozialen und ökonomische Umbrüchen verbunden war, aber für die
      allermeisten Menschen eben gar nicht so katastrophisch, wie manche
      antike Autoren es wahrnahmen. Wogegen sich die EAA wendet, ist eine
      Rückabwicklung, eben eine Revision von Geschichte, die sich auf einen
      zufälligen, aber gerade genehmen Zeitpunkt in der Geschichte bezieht.
      Das ignoriert nicht nur die Gründe, warum sich die Dinge seither
      weiterentwickelt haben, sondern verletzt die Rechte all derer, die nach
      diesem Zeitpunkt gekommen sind, und es ist auch vollkommen
      unrealistisch, weil man Geschichte eben nicht zurückdrehen, sondern nur
      nach vorne entwickeln kann. Jeder Versuch, Geschichte zurückzudrehen,
      hat bislang nur in Katastrophen, Gewalt und Unterdrückung geführt und
      ist daher mit einer offenen und demokratischen Gesellschaft unvereinbar.

      Schließlich verwendet die Berner Erklärung „politisch“ im allgemeinen
      Sinn als das, was die Gemeinschaft als Ganzes angeht, also unser aller
      Zusammenleben. Gerade deshalb wendet sich ausdrücklich gegen die
      parteipolitische Vereinnahmung von Geschichte und fordert, dass
      Archäologie nicht aus ihren interpretatorischen Kontexten und
      Diskussionen gelöst und einseitig für Parteiinteressen gebraucht werden
      darf!

      Würde mich freuen, wenn sich damit nun ein paar Missverständnisse
      aufgelöst hätten :-)

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    2. Mir ist die von Ihnen vorgebrachte Argumentation geläufig, ich teile sie aber größtenteils nicht. Besonders deshalb, weil ich in der Berner Erklärung doppelte Maßstäbe erkenne. Sie wenden sich darin zwar gegen Populismus, aber wir beide wissen ganz genau, dass Sie damit, so wie auch die Massenmedien, nicht etwa Populismus wie Mietpreisbremsen, bedingungsloses Grundeinkommen ("free stuff") oder die Angstmache vor der baldigen Klimakatastrophe meinen, sondern Migrationskritiker und Co ansprechen. Warum sonst hätten Sie, wie schon angedeutet worden ist, es für nötig gehalten, Religion mit keinem Wort zu erwähnen, wo doch gerade Religion ein wichtiger Teil der archäologischen Arbeit ist und im Zusammenhang mit Migration massive Spannungen und die von Ihnen kritisierten Spaltungen innerhalb der Gesellschaft hervorruft? Oder sind nur jene die Spalter, die das kritisieren und auf vergleichbare Entwicklungen in der Geschichte hinweisen? Wird der Überbringer der Botschaft zum Bösewicht erklärt? Genau das evozieren sie nämlich in der Berner Erklärung.

      Nichts für ungut, aber die Berner Erklärung ist in großen Teilen eine Anbiederung an den in bestimmten Kreisen vorherrschenden Zeitgeist und damit ein Stück Opportunismus. Aber nichts anderes erwarte ich mir von staatlich besoldeten Wissenschaftlern. Ihr dreht euer Fähnchen immer im Wind und schafft es dann auch noch stolz darauf zu sein. Geschichte wiederholt sich in ihren Grundzügen eben doch.

      Martin Steiner

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    3. "die früher einmal so bezeichnete Völkerwanderungszeit nun als
      Transformationsepoche zu verstehen, ist genau so eine Revision eines
      überholten Geschichtsbilds, nachdem sich herausgestellt hat, dass es
      "die Völker" gar nicht gab, sondern sie erst sehr viel später erfunden
      wurden, "

      Alles mögliche war unterwegs: multiethnische Gefolgschaftsverbänden genauso wie kulturell und ethnisch weitestgehend homogene Stämmte bzw. Völker, die sich auf der Wanderschaft zusammenschlossen und auch wieder trennten. Irrelevant ist, ob man im 19. Jahrhundert den Begriff Volk zu optimistisch definiert hat, um die nationale Identität z.B. der Deutschen zu stärken. Im Kern beschreibt Völkerwanderung die Vorgänge in der Spätantike durchaus richtig. Der Begriff wird außerdem, falls Ihnen das nicht bekannt ist, auch in den meisten aktuellen Lehrbüchern verwendet. Ihr Transformations-Dingsbums ist andererseits kein Begriff, den eine Mehrheit nutzt. Ihm wird ein ähnliches Schicksal beschieden sein wie dem Kürzel v.u.Z (statt v. Chr.).

      "dass auch bei weitem nicht so viele Leute wanderten, wie
      einstmals angenommen"

      Darfs ein bisschen weniger sein? 9 Millionen statt 15? 8 Millionen statt 10? 10 statt 20?
      Macht das das Kraut wirklich noch fett?
      Es ist ein wenig so wie wenn man sagen würde, die chinesische Kulturrevolution habe nach neuesten Erkenntnissen nicht 50 Millionen Tote gefordert, sondern bloß 45, und deshalb müsse die Grausligkeit von Maos Regime insgesamt neu bewerten.

      "und dass die Zeit zwar sicherlich vor allem mit
      sozialen und ökonomische Umbrüchen verbunden war"

      Maßgeblich hervorgerufen durch was? Vielleicht durch den permanenten Einfall fremder Völker, entschuldigen Sie, ich meinte natürlich "durch den Besuch fremder Transformatoren"? Meinen Sie, eine Volkswirtschaft (sollen wir dieses Wort auch ersetzen, da es doch angeblich keine Völker gibt?), die zu großen Teilen auf Landwirtschaft beruht, kann funktionieren, wenn Agrarflächen Jahr für Jahr in großem Ausmaß von Feinden verwüstet werden, während der Staat gleichzeitig immer größerer Summen ins Militär pfeffern muss, um diese Flächen, mehr schlecht als recht, zu schützen?!
      Und kommen Sie mir jetzt nicht mit irgendwelchen Seuchen oder dem Klimapessimum der Spätantike. An diesen Gründen alleine wäre Rom gewiss nicht zugrunde gegangen. Genauso wenig wie an der Pest die Königreiche des Mittelalters zugrunde gingen oder die europäischen Großmächte an der kleinen Eiszeit zerbrochen wären. Davon abgesehen, dass die großen antiken Seuchen aus dem Osten im Zuge militärischer Auseinandersetzungen eingeschleppt worden sein dürften und somit auch eine direkte Folge der Völkerwanderungen gewesen wären.

      "aber für die allermeisten Menschen eben gar nicht so katastrophisch"

      Das ist schon eine steile These, denn ganze Landstriche waren entvölkert, bedeutende Städte waren im wahrsten Sinn des Wortes ruiniert, die Siedlungskontinuität reißt an unzähligen Plätzen ab, großflächige Zerstörungshorizonte (Brandschutt!), ein zivilisatorischer Abstieg wohin man auch blickt. Dazu muss man nicht einmal antike Autoren wie z B Eugippius oder Jordanes als Zeugen hervorholen, das sagt auch und gerade die Archäologie bzw die Summe der unzähligen Einzelbefunde. An diesen Fakten ändert der von Ihresgleichen gerne bemühte Umstand nichts, dass es damals Leute gab, die sich Protzvillen gebaut haben und sich z.T. mit den neuen Verhältnissen und auch neuen Herrschenden arrangierten. Denn solche Profiteure gibt es in jedem untergehenden Imperium wie z B die Oligarchen Russlands belegen.

      Ich stimme Ihnen also in keinem der genannten Punkt zu, finde es aber positiv, dass Sie sich dem Gespräch nicht verweigert haben.


      Gero

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    4. @Thomas Meier: Das Spiel auf der Emotionsorgel zur Durchsetzung politischer Ziele ist schlecht, ok, dagegen wende ich nichts ein.
      Aber gilt das nur für Politker? Warum mit dem Blick in die Ferne schweifen? Werfen Sie stattdessen einmal einen Blick auf Ihre Archäologenkollegen. Einige davon haben nämlich vor einiger Zeit dieses Bild in verschiedenen Variationen online geteilt, und zwar ohne den geringsten Zweifel in einem aktuellen politischen Kontext. Finden Sie solche pseudowitzigen Aufrufe zu Gewalt und Selbstjustiz akzeptabel? Wie wäre es, wenn sie der Berner Erklärung ein Bekenntnis zum Rechtsstaat hinzufügen, denn einige Ihrer Kollegen haben dazu offensichtlich ein sportliches Verhältnis, wenn es um die "gute Sache" geht.

      https://bit.ly/2q1i2sV

      Der Wanderschmied

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    5. Schließe mich Martin Steiner an: Warum steht in dieser Berner Erklärung kein Wort über Religion als Bedrohung unserer Gesellschaft? Warum die Beschränkung auf Populismus?

      Robert

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    6. Werter Herr Meier, Ihr Kollege und Namensvetter Mischa Meier hat erst vor wenigen Wochen ein Buch bei C.H. Beck publiziert, das den Titel trägt:
      "Geschichte der VÖLKERWANDERUNG: Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n.Chr."

      Muss der Althistoriker Meier jetzt auch mit einer Belehrung rechnen, weil er sich erdreistet hat, den von Ihnen als sachlich falsch hingestellten Begriff "Völkerwanderung" verwendet zu haben?

      Wissen Sie, was Ihr Problem ist? Sie stellen Ihre Meinung als einzig gültige Wahrheit hin. Das ist nicht gut. Vor allem aber ist es nicht wissenschaftlich.

      Hagen

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  12. Transformation ist letztendlich ein Begriff mit Null-Aussage, weil sich ständig alles verändert. "Panta rhei" - alles fließt - hat schon Heraklit festgestellt.
    Grüße Sterzi

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    1. Im Englischen spricht man von "migration period". Der Begriff ist sowohl präziser als Völkerwanderungszeit wie auch als "Transformation".

      C3PO

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  13. Gute Analyse. Wissenschaftler sollten ganz allgemein Humanisten sein, die Wahrheit und die Menschen lieben, aber allzu konkrete politische Aussagen im Namen der Wissenschaft lieber unterlassen, solange es nicht gegen deutlich erkennbare Verfassungsfeinde geht. Es steht jedem Wissenschaftler frei, sich neben seiner Wissenschaft als Staatsbürger politisch zu engagieren. Insbesondere ein dämliches Anbiedern an einen Zeitgeist ist zu unterlassen. Gerade Wissenschaftler, die mit menschlicher Geschichte zu tun haben, sollten da einen besonders weiten Horizont haben.

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  14. Ich habs verstanden, neben den Altmedien will jetzt auch die Wissenschaft ihre oft sowieso nur geheuchelte Objektivität fahren lassen und sich stattdessen ganz offiziell aufs (einseitige) Politikmachen verlegen.
    Wozu das aber an Universitäten führt, könnt ihr hier nachlesen.
    https://www.tichyseinblick.de/feuilleton/linksintellektuelle-diskursmacht-rausgeekelt-aus-dem-seminar/

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  15. es ist nicht die aufgabe von Wissenschaft, sich an der politischen willensbildung zu beteiligen.
    jonas

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