Der im späten 11. Jh. angefertigte, 68 Meter (!) lange Teppich von Bayeux ist eine faszinierende Stickarbeit, auf der - einem modernen Comic nicht unähnlich - die Eroberung Englands durch ein normannisch-französisches Heer geschildert wird. Neben der im Zentrum der bildlichen Erzählung stehenden Entscheidungsschlacht bei Hastings im Jahr 1066, wurde auch die heute zum Teil rätselhaft anmutende Vorgeschichte dieses dramatischen Ereignisses verarbeitet.
Pierre Bouet und François Neveux beschäftigen sich seit vielen Jahren mit dem berühmten Teppich und präsentieren in der vorliegenden, 236-seitigen Publikation den aktuellen Forschungsstand dazu.
Im ersten Hauptkapitel, das ca. ein Drittel des gesamten Buchs einnimmt, werden die einzelnen Szenen des mittelalterlichen 'Comicstrips' großformatig abgebildet und in chronologischer Reihenfolge hinsichtlich ihres Inhalts kurz erläutert.
Im ersten Hauptkapitel, das ca. ein Drittel des gesamten Buchs einnimmt, werden die einzelnen Szenen des mittelalterlichen 'Comicstrips' großformatig abgebildet und in chronologischer Reihenfolge hinsichtlich ihres Inhalts kurz erläutert.
Im zweiten Hauptkapitel geht man auf die erzählte Geschichte - also die Eroberung Englands - punktuell genauer ein und gleicht die Darstellungen auf dem Teppich mit der schriftlichen Überlieferung ab. Hier findet sich manch Widerspruch, denn einerseits verschweigt uns der Teppich einiges, andererseits enthält er aber auch Details, die sich in keiner sonstigen Quelle finden.
Das dritte Hauptkapitel beinhaltet zum einen Fragestellungen hinsichtlich der Anfertigung des Teppichs; dazu zählen etwa der Arbeitsaufwand bzw. die benötigte Zeit, die verwendeten Materialien, die Sticktechnik und die durchgeführten Reparaturen bzw. Restaurierungen. Zum anderen erörtert man die ikonographischen Besonderheiten der Darstellungen, die lateinischen Inschriften (Bildtexte) usw.
Im vierten und letzten Hauptkapitel geht es unter anderem um die Urheberschaft des Teppichs von Bayeux, um seine bemerkenswerte Überlieferungsgeschichte sowie um die Frage, welche (Propaganda-)Botschaften er enthält. Beispielsweise ist es interessant, dass hier der in der Schlacht von Hastings gefallene englische König Harold Godwinson erstaunlich gut wegkommt, obwohl doch die Stickerei von seinen siegreichen Gegnern in Auftrag gegeben wurde und überdies in schriftlichen Quellen behauptet wird, er habe sich den Thron widerrechtlich angeeignet. War der Teppich demnach auch der Versuch einer Aussöhnung zwischen den normannisch-französischen Eroberern und den besiegten Engländern/Angelsachsen?
Zu kritisieren habe ich an diesem Buch nur Kleinigkeiten: Dazu zählt der Umstand, dass einige auf dem Teppich dargestellte Objekte von den Autoren mit aus meiner Sicht unpassenden Begriffen versehen wurden. Beispielsweise bezeichnete man eine einschneidige Stichwaffe - die stark an einen Sax erinnernt - als "Entermesser"; wohl weil hier angenommen wurde, die Person, die diese Waffe trägt, sei ein Seemann ...
Etwas ungeschickt will mir außerdem erscheinen, dass im ersten Hauptkapitel die Abbildungen der einzelnen Szenen des Teppichs immer komplett über eine Doppelseite laufen; dieser Umstand führt dazu, dass der Leser jene Details, die sich in der Buch-Mitte befinden - also dort wo die Seiten zusammenstoßen - nur schlecht oder gar nicht erkennen kann. Siehe z.B. die erste der nachfolgenden Abbildungen.
Etwas ungeschickt will mir außerdem erscheinen, dass im ersten Hauptkapitel die Abbildungen der einzelnen Szenen des Teppichs immer komplett über eine Doppelseite laufen; dieser Umstand führt dazu, dass der Leser jene Details, die sich in der Buch-Mitte befinden - also dort wo die Seiten zusammenstoßen - nur schlecht oder gar nicht erkennen kann. Siehe z.B. die erste der nachfolgenden Abbildungen.
Szene für Szene wird der Teppich im ersten Hauptkapitel erläutert. Hier kehrt beispielsweise der zukünftige englische Kurzzeit-König Harold von seiner möglicherweise ungeplanten, auf jeden Fall aber folgenschweren Normandie-Reise zurück. Hinsichtlich der dargestellten Kleidung ist der Teppich von Bayeux eine wahre Fundgrube und taugt weitestgehend auch noch als Quelle für meine ottonische Living-History-Darstellung, da sich in modischer Hinsicht vom 10. auf das 11 Jahrhundert nur relativ wenig verändert hat. |
Ein Überblick hinsichtlich der unterschiedlichen Tierdarstellungen auf dem Teppich. Ähnliches findet man auch für andere Bereiche der Ikonographie. |
Ein Kleriker mit Tonsur ohrfeigt eine Frau namens Aelfgyva. Es ist überaus rätselhaft, was diese außergewöhnliche Szene zu bedeuten hat. Freilich, einige Forscher mutmaßen, der unter dieser Szene im Zierrand abgebildete nackte Mann sei eine verborgene Anspielung auf eine damals vielleicht allgemein bekannte sexuelle Verfehlung dieser wohl bedeutenden Dame. Die Buchautoren weisen andererseits u.a. darauf hin, dass das (leichte) Ohrfeigen im Mittelalter auch eine verbreitete Vorgehensweise war, um bei Zeugen eines Rechtsaktes für die nötige Aufmerksamkeit zu sorgen (vergleichbar damit ist das in der frühmittelalterlichen Lex Baiovariorum erwähnte "Ohrenzupfen" - siehe dazu meine Buchbesprechung der Lex). Im konkreten Fall könnte es sich um ein Ehegelöbnis handeln. |
Fazit: Der Teppich von Bayeux ist ein einzigartiges historisches Zeugnis und stellt aufgrund seiner detailreichen Abbildungen ein hervorragende Quelle mittelalterlichen Alltagslebens dar. Dem wird das vorliegende, im Theiss-Verlag erschienene Buch unterm Strich absolut gerecht: Es ist übersichtlich, optisch schön gestaltet und so geschrieben, dass auch völlige Laien keine gröberen Verständnisprobleme haben dürften. Der Kaufpreis beträgt knapp 50 Euro.
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Weiterführende Informationen:
- Der Teppich von Bayeux - bei Amazon
- Der Youtuber Lindybeige bespricht den Teppich in einem unterhaltsamen Video
Weitere interessante Themen:
- Das Reenactment der Schlacht bei Hastings: Von Walküren und Konformismusdruck
- Robin Hood der Normannen-Schreck: Sinn oder Unsinn einer Legende?
- Buch: 1066 - Englands Eroberung durch die Normannen
Hallo Hiltibold,
AntwortenLöschenich habe mir das Buch gekauft, nachdem du letztens schon kurz darauf hingewiesen hast. Wirklich toll und sein Geld wert. Ich denke, man kann hier von einem Standardwerk sprechen.
LG
FLorian
Das kann man tatsächlich so bezeichnen.
LöschenStimmt, den Mittelteil, hätte man schon freilassen können ...
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