Samstag, 23. Januar 2021

📖 Buch: Epistulae morales ad Lucilium / Briefe an Lucilius über Ethik - Mehr als nur Philosophie



Der römische Philosoph, Autor und Politiker Lucius Annaeus Seneca wurde um Christi Geburt in Corduba (Provinz Hispania Baetica) geboren. Obwohl nicht aus einer besonders einflussreichen Familie stammend und trotz einer vorübergehenden Verbannung wegen angeblichen Ehebruchs mit einer Schwester Caligulas, kletterte er in Rom beständig die Karriereleiter nach oben. Höhepunkt war die Leitung der Regierungsgeschäfte zusammen mit dem Prätorianerprefäkten Sextus Afranius Burrus für den noch jungen und unerfahrenen Nero; Kaiser Traian bezeichnete rückblickend diese fünf Jahre als ein goldenes Zeitalter. Doch Seneca wurde schließlich die Gunst entzogen und nachdem er einem von Nero in Auftrag gegebenem Mordanschlag nur knapp entkommen war, zwang man ihn bald darauf - nämlich im Jahr 65 n. Chr. - wegen einem angeblichen Naheverhältnis zu einer aufgeflogenen Verschwörung sich selbst den Tod zu geben.

Die philosophischen "Briefe an Lucilius über Ethik" entstanden irgendwann nach Senecas Entmachtung im Jahr 62 n. Chr., als der Absender sich aufs Land zurückgezogen hatte und der Adressat Prokurator bzw. Finanzverwalter der Provinz Sicilia gewesen ist. Geboren wurde Lucilius wohl um 10 n. Chr. in Pompeji - er war also nicht wesentlich jünger als Seneca, sodass hier nicht von einem typischen Lehrer-Schüler-Verhältnis ausgegangen werden kann. 
Sowohl Seneca wie auch Lucilius standen der philosophischen Schule der Stoa nahe. Entsprechend sehen auch Senecas briefliche Ratschläge aus, in denen er sozusagen über Gott und die Welt philosophiert. Ein zentraler Punkt ist dabei, durch Askese innerer Ruhe zu gewinnen, die es einem erleichtern soll, Schicksalsschläge gefasst hinzunehmen und dem Tod ohne Furcht entgegenzublicken. Antike christliche Autoren haben Seneca dafür später einiges an Wohlwollen entgegengebracht. 
Wenn ich mich allerdings richtig erinnere, dann war es unter anderem Tacitus, der Senecas Reichtum kritisierte, da dieser ja wenig zum angepriesenen Ideal der Enthaltsamkeit passt (wohl um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen, predigen quer durch die Weltgeschichte freilich viele reiche Leute Enthaltsamkeit, leben aber selbst in Luxus; siehe einen Schwarzenegger oder DiCaprio, die gemeinsam mit vielen hochbezahlten Unterhaltungswurschteln schrill vor dem klimabedingten Weltuntergang warnen, aber z.B. selbst gerne mit dem Privatjet umherfliegen und jeweils einen CO2-Fußabduck wie eine afrikanische Kleinstadt hinterlassen).  

Nun weiß auch ich, trotz seiner offensichtlichen Heuchelei, manch klugen Gedanken des Autors zu würdigen. Vieles - wie der  von ihm kritisierte Konsumismus - ist ja heute aktueller denn je. Doch bin ich auch jemand, der mit Philosophie nur mäßig viel am Hut hat, da diese leicht zu 'Hirnwichserei' führen kann. Dementsprechend ist es mir nicht möglich, mich zu diesem Thema in wirklich qualifizierter Weise zu äußern; wer an unqualifizierten Einlassungen Gefallen findet, der schaue lieber eine x-beliebige Nachrichtensendung im Fernsehen an oder schlage eine der unzähligen, an Leserschwund leidenden Tageszeitungen auf. 

Warum aber habe ich mir nun überhaupt die "Epistulae morales ad Lucilium" zugelegt? Ganz einfach, es handelt sich dabei auch um eine historische Quelle, die manch interessantes Detail enthält. Obwohl ich mir diesbezüglich - bei so viel Text - doch deutlich mehr erwartet habe, besonders hinsichtlich des antiken Lebensalltags. Leider geizt Seneca diesbezüglich. Wir wollen uns hier nun aber einige der positiven Beispiele ansehen.

Im 47. Brief wird dazu aufgerufen, Sklaven anständig zu behandeln, da Sklaverei auch einen selbst recht plötzlich treffen kann. Als Beispiel führt Seneca das Schicksal hochrangiger Offiziere (wohl Militärtribunen) an:

Nach der Niederlage des Varus hat das Geschick viele Männer von glänzender Herkunft, die sich aufgrund ihres Militärdienstes den senatorischen Rang erhofften, tief fallen lassen; denn einen von ihnen machte es [als Gefangenen der Germanen] zum Hirten, den anderen zum Wächter einer Hütte. 

Wie es der Zufall (?) so will, hat die deutsche Autorin Iris Kammerer vor einigen Jahren eine Roman-Triologie veröffentlicht, in deren ersten Teil es um einen römischen Militärtribunen geht, der im Zuge der für Rom katastrophal ausgegangenen Varusschlacht gefangen genommen wird. Leider fällt die Geschichte - wie es bei vielen weiblichen Autoren historischer Romane vorkommt - etwas zu schnulzig aus; zumindest für meinen, von Bernard Cornwell und Co. hoffnungslos verdorbenen Geschmack.

Auch zur römischen Architektur äußert sich Seneca - so etwa im 115. Brief:

Wir bewundern Wände, die mit dünnen Marmorplatten verkleidet sind, wenngleich wir die Beschaffenheit dessen kennen, was sich dahinter verbirgt. Wir täuschen unsere Augen, und wenn wir Dächer vergolden lassen, was tun wir da anderes, als dass wir uns an einer Täuschung freuen? Wir wissen ja, dass unter jenem Gold unansehnliche Balken verborgen sind. [...]

Halterungen für die genannten Marmorverkleidungen wurden auch archäologisch nachgewiesen; überaus zahlreich beispielsweise in Ostia Antica (nahe Rom).

Interessanter noch ist, was Seneca im 86. Brief zur Bauweise eines Landguts des legendären Hannibal-Bezwingers Scipio Africanus zu sagen hat - der damals auch schon seit rund zweieinhalb Jahrhunderten nicht mehr lebte. Geben diese Einlassungen doch nicht nur hinsichtlich der Architektur und der langen Nutzungsdauer von Privatbauten Auskunft, sondern auch zur dürftigen Sicherheitslage selbst im römischen Kernland Italia:

Ich habe mir das Landhaus angesehen, das aus Quadern von behauenem Bruchstein errichtet ist, die Parkanlage, die von einer Mauer umgeben ist, auch Türme, die zur Schutzwehr für das Landhaus auf beiden Seiten hochgezogen sind, eine Zisterne bei den Gebäuden an einer Wiese, die sogar für den Bedarf eines Heeres ausreichen könnte, eine enge kleine Badeanlage, düster nach alter Gewohnheit; unseren Vorfahren schien nur das Dunkle Wärme zu garantieren.

Übrigens, in diesem 86. Brief äußert sich Seneca noch recht ausführlich zur Badekultur seiner Zeit. Möglicherweise handelt es sich dabei heute um sein am meisten zitiertes Schreiben.

Beim Betrachten antiker Bildquellen findet man in Alltagsszenen relativ wenige 'Zivilisten', die mit einer Kopfbedeckung dargestellt sind; mehr noch trifft das auf Personen aus der obersten Gesellschaftsschicht zu, der auch Seneca als Senator und ehemaliger Konsul angehörte. Deshalb könnte heute der Eindruck entstehen, das Tragen von Kappen und Hüten sei eher eine Ausnahme gewesen. Umso interessanter ist deshalb folgende Aussage im 64. Brief: 

Wenn ich einen Konsul sehe oder einen Prätor, tue ich alles, womit das Ehrenamt geehrt zu werden pflegt: Ich springe vom Pferd, entblöße das Haupt und trete zur Seite.

Man würde dieses Entblößen des Hauptes nicht extra erwähnen, wenn dazumal im Alltag ohnehin kaum jemand eine Kopfbedeckung getragen hätte.

Solche und weitere Beispiele machen es für jene, die am antiken Rom ein tiefergehendes Interesse haben, durchaus sinnvoll, die "Briefe an Lucilius" zu lesen. Auch wenn man kein großer Philosophie-Freund ist.

Die vorliegende lateinisch-deutsche Ausgabe der "Epistulae morales ad Lucilium" besteht aus zwei Bänden mit insgesamt 1440 Seiten. Die Übersetzung ist in einem gut leserlichen, zeitgemäßen Deutsch gehalten. Im Anhang findet man viele nützliche Endnoten/Anmerkungen, ein Nachwort, eine Zeittafel, ein umfangreiches Verzeichnis der Eigennamen, ein Literaturverzeichnis, eine Erläuterung der wichtigsten Begriffe der Stoa und eine Werksübersicht Senecas. 

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Weiterführende Informationen:




3 Kommentare:

  1. Ah, Seneca, den habe ich in meiner Zeit am Kölner Humboldt-Gymnasium lesen müssen. Cäsars "Gallischer Krieg" hat mir aber besser gefallen. :-)

    Neben Tacitus ist Seneca übrigens auch von Cassius Dio für sein Messen mit zweierlei Maß kritisiert worden. Vielleicht hätte er sich in Sachen Verzicht ein Beispiel an Diogenes nehmen sollen, weil dieser Philosoph war wenigstens konsequent. :-)

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    1. Wie Diogenes in einem Fass aus Ton zu hausen, ist dann vielleicht doch schon ein overkill ;)

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  2. Sehr schön auf den Punkt gebracht: Die Heuchelei der Reichen ist ein zeitloses Phänomen
    Ganz aktuell: https://www.youtube.com/watch?v=ARDXlyq3EgI

    Ciao,
    AlMartino

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