Montag, 15. September 2014

Feindesliebe in der Bergpredigt, Feindeshass in einer Schriftrolle vom Toten Meer



Jesus soll in der bekannten Bergpredigt gesagt haben:  
"Ihr habt gehört, dass gesagt (geboten) wurde: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch ..." (Mt. 5.43-44)
Hier stellt sich die Frage, was mit "Ihr habt gehört" gemeint ist, denn im Alten Testament findet sich kein Gebot, demzufolge den Gläubigen der Auftrag erteilt wird, sie mögen ihre Feinde hassen. 
Sollte Jesus hier nicht einfach nur eine (falsch überlieferte?) Binsenweisheit zum Besten gegeben haben, dann bliebe seine Aussage ein wenig rätselhaft.

Licht ins Dunkle könnten jedoch die in den 1940ern und 1950ern entdeckten "Schriftrollen vom Toten Meer" (Qumran) bringen. Diese vor den anrückenden Römern in Sicherheit gebrachten Texte stammen - wie man heute annimmt - aus verschiedenen jüdischen Bildungszentren: z.B. Jericho oder der Tempelbibliothek von Jerusalem. 
In einer der Rollen - nämlich der ins 1. vorchristliche Jahrhundert datierten Gemeinderegel (1QS) - findet sich interessanterweise Passagen, die inhaltlich mit obigem Abschnitt der Bergpredigt übereinstimmen bzw. Feindeshass einfordern: 
"Das sind  die  Bestimmungen  des  Weges  für  den  Unterweiser  in diesen Zeiten, für sein Lieben wie für sein Hassen: ewigen Hass gegen die Männer der Grube im Geist des Verbergens, ihnen Besitz und Arbeit der  Hände  zu  lassen,  wie  ein Sklave  dem  gegenüber  handelt,  der ihn beherrscht, und Demut übt gegen den, der sein Herr ist."
".... und alle Söhne des Lichtes zu lieben, jeden nach seinem Los in der Ratsversammlung Gottes, aber alle Söhne der Finsternis zu hassen, jeden nach seiner Verschuldung, in Gottes Rache."
Bezieht sich Jesus nun genau auf diese Gemeinderegel oder - was wahrscheinlicher erscheint - zumindest auf eine damals weit verbreitete religiöse Lehre, die ihr Fundament bildete? 
Abwegig ist dieser Gedanke sicher nicht, denn Judäa war ein besetztes Land und es kriselte ständig zwischen Einheimischen und Römern. Auch innerhalb des Judentums standen Spannungen an der Tagesordnung: Sadduzäer, Pharisäer, Essener und nicht zuletzt die rabiaten Zeloten (denen ursprünglich mindestens einer der Jünger Jesu angehört haben soll) lagen im Dauerstreit. In einem solchen Umfeld ist es naheliegend, dass die religiösen Schriften von einzelnen Gruppierungen bzw. Priestergemeinschaften in einer Form ausgelegt wurden, die auf eine strickte Ablehnung von Andersgläubigen und vermeintlichen Abweichlern abzielte. Die Formulierung "Söhne des Lichts" und "Söhne der Finsternis" bezeugt dieses dualistische Weltbild, das außer Gut (=immer die eigenen Glaubensvorstellungen) und Böse nichts anderes akzeptiert. 
Dem der Bergpredigt lauschenden Publikum muss diese Lehre vom Feindeshass bekannt gewesen sein - anderenfalls hätte Jesus mit seiner Aussage "Ihr habt gehört, dass gesagt wurde...nur verständnislose Blicke geerntet. 

Es scheint fast so, als ob Jesus hier einer im Judentum aufkommenden Radikalisierung entgegentreten wollte. Der Erfolg war jedoch eher bescheiden, denn etwas mehr als 30 Jahre nach seinem Tod kam es zu einem - von religiösen Eiferern befeuerten - Aufstand gegen Rom, der letztendlich zur Zerstörung Jerusalems und des jüdischen Tempels führte. 
Aber vielleicht waren es ja gerade diese schrecklichen Ereignisse, die den pazifistischen Lehren von Jesus jene Glaubwürdigkeit verliehen, die sie vor allem bei der Unterschicht und den gesellschaftlich Benachteiligten in den darauf folgenden Jahrhunderten so ungemein populär machten.

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Weiterführende Literatur:


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