Montag, 3. November 2014

Der Utrechter Psalter als Bildquelle frühmittelalterlicher Alltagskultur - Teil 1: Die Bogenwaffe

Neben dem Stuttgarter Psalter ist der Utrechter Psalter wohl eine der faszinierendsten Bildquellen des frühen Mittelalters. Das in Nordfrankreich um 830 entstandene Buch enthält 166 schwungvolle Tuschezeichnungen, die in der mittelalterlichen Kunst aufgrund ihrer Lebendigkeit eine echte Besonderheit darstellen. Vom Stil abgesehen ist der Utrechter Psalter auch wegen seiner detailreichen Darstellungen interessant, da diese einiges über die Alltagskultur des 9. Jhs. - und darüber hinaus - verraten. Hierbei ist jedoch Vorsicht angebracht, da etliche Illustrationen auf antiken Vobildern beruhen, die im Mittelalter so längst nicht mehr existierten. Besonders deutlich wird dies beispielsweise bei Helmen und Rüstungen. 

Alle hier gezeigten Bilder stammen von der Website der Universitätsbibliothek Utrecht, wo komfortabel in verschiedensten Handschriften geblättert werden kann: Klick mich
Sehr erfreulich gestaltete sich auch die Kontaktaufnahme: Nachdem ich in englischer Sprache per E-Mail angefragt hatte, ob die Bilder für mein Blog verwendet werden dürfen, bekam ich innerhalb weniger Minuten eine positive Antwort - auf Deutsch :)

Es folgen einige interessante Beispiele, die veranschaulichen, inwieweit der Utrechter Psalter speziell für Rekonstruktionen im Rahmen lebendiger Geschichtsdarstellung von Nutzen sein kann. Manch Detail wirft freilich mehr Fragen auf, als es beantwortet...


Beispiel A | Bilder 1, 2, 3 |
Quelle: Utrechter Psalter, Seiten 21, 35, 37 / Utrecht, University Library

Auf den Bildern 1, 2 und 3 ist zu sehen, wie diverse Bogenschützen - ohne sich umzudrehen - ihre Hände nach Pfeile ausstrecken, die ihnen von im Hintergrund stehenden Gehilfen gereicht werden. Besonders fällt hierbei auf, dass die Schützen keine Köcher tragen. Doch warum nicht? Sind künstlerische Erwägungen der Grund? Oder könnte es sich um höher gestellte Personen handeln? Wenn ja: War es in besseren Kreisen unüblich, seine Pfeile selbst mit sich herumzuschleppen? 
Eventuell, denn diese Darstellungen weisen interessante Parallelen mit der Beschreibung einer Jagdszene aus dem 5. Jahrhundert auf. Darin wird berichtet, der Westgotenkönig Theoderich II. sei durch den Wald gepirscht und habe sich von einem nachfolgenden Bediensteten - ohne den Kopf zu wenden - seinen Bogen in die ausgestreckte Hand drücken lassen, sobald ein Beutetier in Sicht kam. Die Waffe selbst zu tragen, wäre mit seiner königlichen Würde nicht vereinbar gewesen, heißt es (Sidonius Apollinaris, Epistula 2,5)
Nun, wenn dies für den Bogen galt, dann wohl auch für den nur mäßig handlichen, an Hüfte, Oberschenkel oder Rücken schlackernden Pfeilköcher. Womit wir wieder bei den Darstellungen des Utrechter Psalters bzw. dem nächsten Beispiel angelangt wären (siehe weiter unten).




















Beispiel B | Bilder 2, 3, 4, 5, 6  | 
Quelle: Utrechter Psalter, Seiten 35, 37173, 57, 19 / Utrecht, University Library

Auf den Bildern 2 bis 6 ist die im frühen Mittelalter vermutlich gängigste Bauform eines Köchers - möglicherweise ein Lehnwort aus der "turk-mongolischen" Sprache - zu sehen. Er war zylindrisch und verfügte über einen gewölbten Deckel zum Verschließen. Der Wulst am oberen Rand, welcher auf Bild 5 sehr gut zu erkennen ist, könnte mit der stabilen Fixierung eben dieses Deckels zu tun haben. 250 Jahre nach Entstehen des Utrechter Psalters wurden auf dem berühmten Teppich von Bayeux Pfeilköcher noch immer in sehr ähnlicher Form dargestellt.
Interessant ist auch, dass auf Bild 6 ein Bogenschütze seinen Köcher auf dem Rücken trägt, denn gemeinhin wird angenommen, dass hierzulande die übliche (aber offensichtlich nicht einzige) Trageweise zumeist darin bestand, ihn am Gürtel oder an einem gesonderten, um die Hüften geschlungenen Riemen zu befestigen.
Die Köcher sehen auf diesen Darstellungen weniger danach aus, als ob sie ein besonders großes Fassungsvermögen besitzen - selbst wenn man in Betracht zieht, dass die Proportionen gewiss nicht exakt wiedergegeben wurden. Karl der Große schrieb übrigens in den Capitulare Aquisgranense vor, dass jeder Bogenschütze (im Krieg) mindestens ein Dutzend Pfeile mit sich führen muss. Das spräche an sich für einen relativ großen Köcher, jedoch ist zweifelhaft, ob in jedem Fall alle Pfeile gleichzeitig am Körper mitgeführt wurden - besonders wenn der Schütze von Gehilfen mit Nachschub versorgt werden konnte (siehe Beispiel A). Aus dieser Ungewissheit folgt, dass sich einige Rekonstruktionen an den Darstellungen des Utrechter Psalters (sowie des Teppichs von Bayeux) orientieren und eher sparsame Abmessungen besitzen, während andere quasi die Vorschriften Karls des Großen berücksichtigen und daher ziemlich groß und unhandlich ausfallen.
Interessant ist weiters, dass alle Pfeile - siehe die Bilder 2 bis 6 - mit den Spitzen nach oben im Köcher steckten. Eventuell um die Befiederung besser zu schützen? Oder um die für den jeweiligen Verwendungszweck am besten geeignetste Pfeilspitze ohne großen Suchaufwand sofort griffbereit zu haben? Freilich, man hätte hierfür auch einfach die Enden der Schäfte oder Teile der Federn verschieden einfärben können. Tatsächlich finden sich auf einigen erhalten gebliebenen Pfeilschäften Einritzungen und farbliche Dekorationen (z.B. Bootsgrab von Valsgärde, um 600 n. Chr.). Leider entzieht es sich meiner Kenntnis, ob hier irgend eine Verbindung zu den verwendeten Pfeilspitzentypen hergestellt werden konnte. Vielmehr wird (wie üblich) angenommen, dass die Markierungen auf einen rein religiösen Hintergrund zurückgehen.





Abschließend noch der Hinweis, dass in karolingischen Handschriften, wie dem Utrechter Psalter, vorzugsweise "reiternomadische" (oder bewusst antikisierende?) Reflexbögen dargestellt wurden, obwohl deren Verwendung - glaubt man den archäologischen Befunden - in Westeuropa nach dem Abzug der Römer ein Minderheitenprogramm darstellte, das vermutlich primär die Oberschicht betrieb. Grund: Der Herstellungsaufwand ist bei dieser Bauform ungleich größer, als bei einem normalen Vollholzbogen, wie er seit der Steinzeit in Gebrauch war. Auch sollen diese vermutlich importierte Reflexbögen - die aus mehreren verleimten Schichten unterschiedlicher Materialien bestehen (Kompositbögen) - Feuchtigkeit vergleichsweise schlecht vertragen. 

Im 2. Teil wird es um antikisierende Elemente bzw. antike Versatzstücke im Utrechter Psalter gehen.

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Weiterführende Literatur und Quelle:
Holger Riesch | Pfeil und Bogen zur Merowingerzeit | Karfunkel Verlag | Meine Rezension | Infos bei Amazon

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2 Kommentare:

  1. Es wundert mich auch schon seit längere Zeit, dass diese hunnische/awarischen Refelxbögen so gerne in frühmittelalterlichen Handschriften verwendet werden, während es bei uns so gut wie keine Funde davon gibt. Noch weniger von den Ungarn (von Pfeilspitzen abgesehen), obwohl die doch rund 60 Jahre lang Westeuropa heimgesucht haben.
    Ein sehr interessanter Beitrag übrigens!

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    1. Stimmt, das ist wirklich etwas seltsam. Wobei bei den hier gezeigten Bildern gut zu erkennen ist, dass der Zeichner nur eine vage Vorstellung vom Aussehen dieses Bogens hatte, denn die Sehne müsste eigentlich an den nach Außen gebogenen Enden befestigt werden, und nicht unterhalb davon, wie es z.B. auf Bild 1 dargestellt ist; in dieser Form ist die ganze Sache ziemlich sinnfrei.
      Der Zeichner scheint also in natura einen solchen Reflexbogen ("Recurvebogen") kaum je gesehen zu haben. Was wiederum für eine geringe Verbreitung sprechen könnte.

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