Aus der Reihe Kleidung des Mittelalters selbst anfertigen (Zauberfeder Verlag) stammt das Buch Gewandungen der Wikinger, in dem die selbstständige Kostümschneiderin Carola Adler einschlägige Schnittmuster, Nähanleitungen und vieles mehr präsentiert bzw. erläutert.
Nun mag beim Begriff "Gewandungen" das Oberstübchen von manch living-history-affinem Leser sofort auf Alarmstufe Gelb springen - handelt es sich dabei doch um einen typischen historisierenden Begriff aus dem Bereich Mittelaltermarkt. Doch als Zielgruppe des Buchs haben Autorin und Verlag auch nicht unbedingt die erfahrenen Living-History-Veteranen auserkoren, sondern eher sollen hier Einsteiger aus der gesamten Mittelalter-Szene angesprochen werden; und dazu zählen eben auch Besucher von Mittelaltermärkten sowie Rollenspieler (LARP). Dementsprechend finden zwar häufig die den Rekonstruktionen zugrundeliegenden Quellen Erwähnung, allzu sehr ins Detail wird dabei aber nicht gegangen; das liest sich dann beispielsweise so:
Diese Tunika ist eines der am häufigsten anzutreffenden Kleidungsstücke auf Wikingermärkten und bei Museumsdarstellungen. Die Schnittform ist angelehnt an Textilfragmente, die im Hafen und Gräberfeld von Haithabu gefunden wurden. [...] Die Schnittform [...] unterscheidet sich von Tuniken bzw. Kitteln aus der Eisenzeit vor allem durch diverse Rundungen. [...]Oder folgende Beschreibung, die sich auf die darunter angefügte Abbildung bezieht:
Die Rekonstruktion dieser Tunika ist angelehnt an einen Fund in Dänemark in der Nähe der Stadt Viborg. Das Oberteil ist zweilagig [...]. Die Ärmel sind im Original nicht komplett vorhanden. Hier wird eine mögliche Form gezeigt. [...] Im Original ist die Tunika aus Leinen gefertigt [...]. Dieser Schnitt ist der Grundschnitt der Tunika. Eine Variante dazu wäre die originale Version der Tunika, in der das Obermaterial auf das Futter gesteppt wird.
Der Leser muss aufgrund der bescheidenen Quellenangaben darauf vertrauen, dass ihm die Autorin keinen Unfug erzählt. Dass sie das kaum macht, kann ich aufgrund meiner eigenen Kenntnisse im Fall der dargestellten Kleidungsstücke für Männer weitestgehend bestätigen.
Bei den Schnittmustern für Frauenkleidung ist das entsprechende Wissen bei mir allerdings eher dürftig, deshalb habe ich mich bei einer erfahrenen Schneiderin erkundigt, die seit etlichen Jahren Rekonstruktionen für Living-History-Darsteller und Museen herstellt; ihr Urteil war durchwachsen: Manch Schnittmuster wirkt zu modern. So ist beispielsweise ein Kleid stark ausgestellt zugeschnitten, obwohl zusätzlich (andersfarbige) Keile eingesetzt waren, die eigentlich dieses ausgestellte Zuschneiden überflüssig machen sollten. Das Endergebnis erinnert bereits stark an eine nicht mehr in die Wikingerzeit passende Cotte. Andere Kleidungsstücke gehen allerdings halbwegs mit den (ohnehin nicht sehr üppigen) historischen Quellen konform.
Freilich, dem weiblichen LARPer oder Mittelaltermarktbesucher kann die große Authentizitätsfrage ohnehin egal sein. Für jemanden mit Ambitionen im Living-History-Bereich ist dieses Thema hingegen weniger trivial. Eigene Recherche ist hier deshalb durchaus ratsam, um selbst die entsprechenden Anpassungen vornehmen zu können.
Durchaus sinnvoll wäre es aus meiner Sicht gewesen, die einzelnen Schnittmuster ihrem Authentizitätsgrad entsprechend zu kennzeichnen, um den unerfahrenen Lesern eine praktische Hilfestellung zu geben. Beispielsweise hätte man eine Ampel verwenden können: Grün stünde für sehr authentisch, Gelb für einen schon etwas höheren Anteil an modernen/historisch nicht belegten Hinzufügungen und Rot würde bedeuten, dass man sich in Richtung Fantasy bewegt.
Art und Menge des benötigten Materials werden im Zusammenhang mit den verschiedenen Schnittmuster immer genannt. Außerdem gibt es ein eigenes Kapitel, in dem all die unterschiedlichen Textilien (Schurwolle, Leinen, Seide usw.) behandelt werden, die zur Wikingerzeit üblich bzw. unüblich waren. Auch dem Nähen mit der Hand und der Maschine werden eigene Abschnitte gewidmet. Wiewohl ich denke, dass völlig unerfahrene Näher damit nicht auf Anhieb klar kommen werden und deshalb einige Stunden der Übung und des Nachdenkens benötigen. Ich würde daher mit etwas einfachem beginnen - wie etwa einer Mütze.
FAZIT: Das Buch kann man Hobbyisten aus der LARP- und Mittelaltermarktszene grundsätzlich empfehlen. Ähnliches gilt auch für Männer, die in das Living-History-Hobby einsteigen wollen und vorhaben, sich eine wikingerzeitliche (also auch karolingische und ottonische) Kleidung selbst zu nähen. Bei der Frauenkleidung ist der Autorin allerdings etwas zu oft die Fantasie durchgegangen, um alle Schnittmuster auch für Living History verwenden zu können.
Das sehr schön illustrierte, 76-seitige Buch im A4-Format verfügt zwar über keinen festen Einband, was bei rund 25 Euro Kaufpreis schade ist, trotzdem wurden hier die Seiten nicht einfach nur verklebt, sondern mit einem Faden robust zusammengeheftet. Überhaupt hinterlässt die Gesamtaufmachung den Eindruck, dass sich Illustrator und Verlag große Mühe gegeben haben.
Einleitung
- Geschichte der Wikinger
- Aussehen und Bekleidung der Wikinger
- Kunststile der Wikinger
Gewandungen Mannsvolk
- Tunika mit Keilen
- Tunika "Viborg"
- Tunika mit Trapezen
- Klappenrock kurz
- Klappenmantel lang
- Hose "Thorsberg"
- Hose weit
- Gamaschen/Beinlinge
- Kappe
- Mütze
- Kapuze
- Gugel
- Rechteckmantel
Gewandungen Weibsvolk
- Unterkleid einfach
- Unterkleid tailliert
- Überkleid mit Keile
- Überkleid Schürze
- Trägerkleid mit Falten
- Trägerkleid mit zwei Keilen
- Trägerkleid mit einem Keil
- Trägerkleid mit Zierflechten
- Mantel
- Umhang/Schultertuch
- Kopftuch
- Häubchen
Gewandungen Kinderlein
- Tunika/Kleid
- Hose
- Gugel
Accessoires
Herstellung einer Gewandung
- Erstellung eines Schnittmusters
- Mithilfe der Maßtabelle
- Mithilfe der "T-Shirt-MEthode"
- Auswahl des Materials
Stoffarben
Webstrukturen
Farben
- Nähen des Kleidungsstückes
Allgemeines
Nähen mit der Hand
Nähen mit der Maschine
- Textilkunst
Stikereie
Brettchenborte
Verschlüsse
Farbige Besätze
Flechtwerk und Fransen
Flickwerk
Zotten
Naalbindig
- Nählexikon
Quellenverzeichnis
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Weiterführende Informationen
Weitere interessante Themen auf diesem Blog:
- Eine frühmittelalterliche Thorsberg-Hose aus Leinen
- Meine Kleidung des frühen Mittelalters - Teil 3: Die Tuniken
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- Buch: Das fränkische Heer der Merowingerzeit - Teil II
Hallo Hiltibold,
AntwortenLöschendeine Bewertung des Buchs teile ich zu 100%. Die Männerkleidung ist durch die Bank authentischer und besser mit Quellen belegt. Ich habe auf dieser Grundlage mehrere Sachen für meinen Freund geschneidert. Bei der Frauenkleidung scheint Frau Adler vor allem Bildquellen herangezogen zu haben, aus denen sie ihre Schnittmuster dann zT sehr frei abgeleitet hat. Zugutehalten muss ich ihr aber, dass sie zB für das Unterkleid zwei verschiedene Varianten parat hat: einen schlichten und einen stark tailierten/modernen Schnitt. Da kann sich dann jeder aussuchen, wie "A" er es gerne hätte.
LG,
Johanna
Hallo Johanna, das stimmt, die Autorin schreibt auch gerade bei dem stark taillierten Unterkleid, dass es von allen im Buch behandelten Frauenkleidern "die modernste Passform" besitzt. Es ist auch Vorbild für das in der Rezension erwähnte Kleid, das an eine Cotte erinnert. Wer also aufpasst, der bekommt schon Hinweise, wo es unauthentisch wird.
LöschenDer Zauberfeder Verlag hat in dieser Reihe auch ein Buch über mittelalterliche Schuhe herausgebracht:
AntwortenLöschenhttp://www.zauberfeder-verlag.de/zf_KdM4.html
Besteht die Möglichkeit, dass du dir das auch einmal näher ansiehst und besprichst?
Mich würde interessieren, wie authentisch das darin Gezeigt deiner Einschätzung nach so ist.
Bernd
Das ist ein Buch über hoch- und spätmittelalterliche Schuhe, da kenne ich mich zu wenig aus, um eine halbwegs fundierte Meinung zur Authentizität abzugeben. Allerdings ist der Autor Stefan von der Heide, auch als Meister Knieriem bekannt. Das spricht erst mal dafür, dass es wohl nicht so schlecht sein dürfte. Der hat auch meine Römerschuhe angefertigt: Klick mich
LöschenWenn das Schuhbuch von Stefan "Knieriem" ist, erübrigt sich eine kritische Besprechung meiner Meinung nach, denn Stefan ist für mich der absolute Fachmann für historische Schuhe. Allerdings ist bei Schuhen das Selbermachen nicht so einfach, wie es aussieht - wer es trotzdem probieren möchte, kann auch an Workshops bei ihm teilnehmen.
Löschen- Fränkin -
Super Buchbesprechung, danke!
AntwortenLöschenP.T.