Dienstag, 28. Mai 2013

Die Großfamilie des Frühmittelalters - ein Klischee

Kürzlich blätterte ich wieder einmal in einem aus meiner Schulzeit stammenden Geschichtsbuch. Darin war unter anderem etwas von "Großfamilien" zu lesen, die im frühen Mittelalter (speziell in karolingischer Zeit) sozusagen die Norm dargestellt hätten. Diese Annahme war allerdings bereits damals, als das Buch erschien (90er-Jahre), ein veraltetes Klischee.
(Freilich, unter "Familie" bzw. familia kann man im Zusammenhang mit dem Mittelalter auch einen größeren Personenverband verstehen, zu dem dann auch Knechte und Mägde zählen; jedoch ist dies hier mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht so gemeint.

Die Kindersterblichkeit war im Frühmittelalter vergleichsweise hoch und wird das Ihrige dazu beigetragen haben, dass die Anzahl der Familienmitglieder nicht überhand nahm. Es gibt beispielsweise statistische Untersuchungen karolingischer Friedhöfen, die im Falle von Kindern und Jugendlichen eine Sterblichkeitsrate von 30 Prozent nahe legen. Die Forschung geht teilweise sogar von rund 45 Prozent Prozent aus.
Bedenkt man außerdem, dass es Verbote gegen Abtreibung gab (z.B: in der Lex Baiuvariorum), dann kann man sich ausrechnen, dass auch bewusst herbeigeführte Schwangerschaftsabbrüche nicht gerade unüblich waren. Mögliche Hauptursache: Nahrungsmangel im Falle zu vieler Kinder.
So ist es also wenig verwunderlich, dass neben archäologisch untersuchten Friedhöfen vor allem die erhalten gebliebene Schriftstücke des frühen Mittelalters darauf hindeuten, dass eine Familie mit sechs, acht, zehn oder noch mehr Kindern eine große Ausnahmen darstellte. 
Ein diesbezüglich interessantes Dokument betrifft eine im Jahr 821 getätigten Schenkung des Abtes Siegfried  an das Kloster St. Emmeram (Seite 100 bis 102 - Klick mich). Darin werden unter anderem auch Hörige und ihr Nachwuchs aufgelistet. Sofort fällt auf, dass hier einige Eltern gar keine Kinder haben, andere meist nur eines, zwei, oder drei. Damit liegt man wohl immer noch über heutigen Durchschnittswerten, aber sicher nicht übermäßig stark.

Sehr kinderreiche Familien gab es bei uns vor allem im Laufe des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - dank besserer Hygiene, Ernährung und medizinischer Versorgung.
Dass Europa zwei Weltkriege wirtschaftlich gut wegstecken konnte, liegt nicht zuletzt an diesem Kinderreichtum der ländlichen Bevölkerung. Meine Großmutter (91) hatte beispielsweise 11 Geschwister ^^

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4 Kommentare:

  1. Ich denke, dass diese Ausnahmen in erster Linie adelige Familien betrafen. Einfach, weil die es sich leisten konnten, viele Kinder zu ernähren.

    LG,
    Erwin

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    1. Ja, das dürfte tatsächlich aus dem von dir genannten Grund so sein.
      Bestes (aber auch extremes!) Beispiel hierfür ist die normannische Familie Hauteville.
      Tankred de Hauteville (10./11. Jh.) setzte, soweit ich weiß, 12 Söhne in die Welt, und eine nicht näher bekannte Anzahl Töchter (wobei er zweimal verheiratet war).

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  2. Mit leider regelmäßig vorkommendem Kindbettfieber und einer hohen Säuglingssterblichkeit können kinderreiche Familien gar nicht zur Norm werden, das ist ein typisches Beispiel einer Rückprojektion aus der frühen Neuzeit. Zudem kann man sich einfach mal die durchschnittlichen Kochtöpfe anschauen. Die Menge Getreidebrei, die in so einen Topf passt, reicht etwa für 4 Portionen, wenn man knausrig rechnet für 6, aber mehr liegt da nicht drin, und keine Hausfrau wird aus purem Vergnügen in zwei Töpfen gekocht haben. (Das war übrigens bei der romanisierten Landbevölkerung nördl. der Alpen schon nicht anders, da gibt es Studien zu Kochtopf- und Familiengröße)

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    1. Das mit der Kochtopfgröße ist unzweifelhaft ein interessanter Punkt und ein deutliches Indiz.

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