Sonntag, 17. Januar 2021

📖 Buch: Celsus und die antike Wissenschaft - Von lebendigen Toten und Sex zur richtigen Jahreszeit

Celsus und die antike Wissenschaft

Unter dem Titel "Artes" veröffentlichte der um die Zeitenwende wahrscheinlich in der Stadt Rom lebende Aulus Cornelius Celsus eine sechsteilige Enzyklopädie: Sie umfasste die Themenbereiche Landwirtschaft, Medizin, Rhetorik, Philosophie, Militärwesen und Jurisprudenz. Weitestgehend vollständig erhalten geblieben ist davon allerdings nur das aus acht Büchern bestehende Teilwerk über die Medizin ("De medicina"). Vom großen Rest sind einige Bruchstücke vorhanden, da Celsus in der Antike ausgiebig zitiert wurde, etwa vom älteren Plinius und dem römischen Landwirtschaftsautor Columella. Überhaupt scheint er dazumal mehr für seine Einlassungen zur Landwirtschaft bekannt gewesen zu sein, als für jene zur Medizin. Heute ist das - aufgrund des sehr unterschiedlichen Überlieferungszustandes der Schriften - genau umgekehrt: Celsus gilt seit der Renaissance als einer der bedeutendsten antiken Autoren zum Themenbereich der Heilkunde. Ob er jedoch selbst praktizierender Arzt war - oder vor allem eine Art Universalgelehrter - lässt sich nicht mehr feststellen. 

Celsus' Erörterungen zum Stand der Medizin seiner Zeit sind außerordentlich umfassend. Chirurgie, Augenheilkunde, Zahnheilkunde, Dermatologie, innere Medizin, Pharmakologie u.v.m. Beispielsweise schreibt er zum Thema Vergiftung:

Nicht so leicht ist denen zu helfen, die Gift in Speisen oder Getränken zu sich genommen haben, zum einen weil sie es nicht so schnell bemerken, wie wenn sie von einer Schlange gebissen wurden, und sich auch deshalb nicht sofort Hilfe verschaffen können, ferner weil der giftige Stoff nicht von der Haut, sondern von den inneren Organen aus seine Wirkung entfaltet. Sobald jemand bemerkt, dass er sich vergiftet hat, ist es dennoch am günstigsten, unverzüglich viel Öl zu trinken und sich danach zu übergeben. Hierauf soll er, wenn der Magen leer ist, ein Gegengift nehmen oder, wenn es nicht verfügbar ist, Wein trinken. [...]
De Medicina V, 27.11-12

Wein galt in der Antike als eine Art 'Allzweckwaffe'. Er war - anders als heute - nicht nur ein reiner Stimmungsmacher, sondern wurde auch ausgiebig in der Medizin eingesetzt. Sei es, um mit dem darin enthaltenen Alkohol Schmerzen zu lindern oder als 'Lösungsmittel' für Medikamente bzw. Drogen (etwa im Rahmen der Dionysien).

Celsus liefert in "De medicina" sogar Anleitungen, die den medizinischen Bereich teilweise verlassen und bereits in die Kategorie Kosmetik gehören; darüber hinaus lässt das folgende Beispiel erahnen, dass sich bereits vor 2000 Jahren mit Schönheitsmittelchen gerade bei weiblichen Patienten/Kunden gutes Geld verdienen ließ. 

Es ist zwar ziemlich albern, Finnen, Sommersprossen und Epheliden zu behandeln, aber man kann ja den Frauen die Pflege des äußeren Erscheinungsbildes nicht streitig machen. [...]
Sommersprossen verschwinden, wenn man Mutterharz und mineralisches Laugensalz zu gleichen Teilen nimmt und die Mischung in Essig zerreibt, bis sie Konsistenz von Honig angenommen hat. Damit werden die erkrankten Körperteile bestrichen, dann nach Verlauf mehrerer Stunden am nächsten Morgen abgewaschen und zart mit Öl eingerieben. [...]  De Medicina VI, 5

Gesundheitsprophylaxe in Form von Ernährungstipps durfte schon in einem antiken Medizinwerk nicht fehlen. Beispielsweise ruft Celsus dazu auf, die Ernährung saisonal anzupassen, verbindet dies dann aber überraschend mit einem völlig anderen Thema ...

Auch die Jahreszeiten müssen wir beachten. Im Winter soll man mehr essen, dafür weniger, allerdings unvermischten Wein trinken.  [...]  In dieser Jahreszeit greift man vornehmlich zu Speisen die warm sind oder warm machen. Der Geschlechtsverkehr ist dann auch nicht gefährlich.
Im Frühjahr soll man nur wenig zu sich nehmen, dafür aber mehr trinken. Allerdings sollten die Getränke stärker verdünnt sein. [...] Der Geschlechtsverkehr ist in dieser Jahreszeit völlig unbedenklich. [...]  De Medicina I, 3.34-39

Hieran lässt sich sehr schön ablesen, dass entgegen einer heute gerne vertretenen Meinung bei den Römern das Trinken von unverdünntem Wein durchaus nicht per se etwas Anrüchiges/Proletoides war (Celsus wendet sich mit seiner Schrift ja eher an Bessergestellte). Außerdem wird vom Autor darauf hingewiesen, dass im Winter (bei richtiger Ernährung) und im Frühling (grundsätzlich) bedenkenlos Geschlechtsverkehr getrieben werden kann. Das wirkt aus heutiger Sicht ziemlich kurios! Gerne würde man wissen, was denn exakt die medizinischen Hintergründe für diese Ansicht gewesen sind.

Aufgrund fehlender technischer Geräte waren Scheintote in der Antike im Vergleich zu heute sicher ein größeres Problem. Wohl deshalb darf in "De medicina" die Beschreibung eines solchen Falls nicht fehlen. Darüberhinaus erfährt der heutige Leser hier auch einige interessante Details über römische Begräbnisse.

[Der Arzt] Asklepiades war [...] ein meisterhafter Beobachter, weil er mit großem Geschick an den Gefäßen Unregelmäßigkeiten oder Beschleunigungen des Pulses erkannte. Da begab es sich, dass er bei der Rückkehr von seinem Landhaus in der Vorstadt nach Rom am Maueranger einen gewaltigen Leichenzug sah. Sehr viele Menschen, die zu dem Begräbnis gekommen waren, umringten die Bahre, alle machten einen sehr traurigen Eindruck und trugen abgetragene Kleider. Er verlangte eine Erklärung aber niemand antwortete ihm. Da trat er näher heran um seine Neugier zu befriedigen und zu erfahren, um wen es sich bei dem Toten handle oder wenigstens persönlich etwas mitzunehmen, was für seien berufliche Arbeit interessant sein könnte. Jedenfalls hat er den lang ausgestreckten und beinahe verlorenen Menschen den Klauen des Todes entrissen. Schon waren nämlich alle Glieder des armen Mannes mit Gewürzen bestreut und sein Mund mit stinkendem Fett benetzt, schon war der Leichnam gewaschen und gesalbt worden, schon war der Scheiterhaufen beinahe aufgerichtet worden. Da nahm Asklepiades, durch sehr sorgfältige Beobachtung gewisser Zeichen aufmerksam geworden, den Körper näher in Augenschein, untersuchte ihn wieder und wieder und fand in ihm verborgenes Leben. Sofort rief er aus: "Der Mann lebt ja!" und forderte die Umstehenden auf, die Fackeln wegzuwerfen, die Feuer beiseite zu schaffen, den Scheiterhaufen abzutragen und den Leichenschmaus vom Grabhügel an den heimischen Esstisch zu verlegen. Einige sagten, man solle dem Arzt glauben, andere meinten, die ganze Medizin sei lachhaft. Schließlich und trotz des Widerstandes der Umstehenden, die sich bereits ihres Erbteils bemächtigt hatten oder ihm noch immer keinen Glauben schenkten, setzte Asklepiades dennoch und nur mit Mühe einen kurzen Aufschub bei der Fortsetzung des Begräbnisses durch, entwand den Mann den Händen der Leichenträger wie dem Vorhof der Unterwelt und brachte ihn in sein Haus zurück. Dort ging alles ganz schnell: Er brachte ihn nämlich nicht nur wieder zum Atmen, sondern gab ihm mithilfe bestimmter Arzneimittel auch wieder das Bewusstsein zurück, das sich in den Schlupfwinkel des Körpers verkrochen hatte.  De Medicina IV, 19

Es sei darauf hingewiesen, dass Celsus rund 70 antike Ärzte zitiert und dabei auch manch biographisches Detail nennt. Darunter besagter, zur Zeit Cäsars lebender Asklepiades von Prusa, der übrigens als die Romanfigur "Asklepiodes" in den hervorragenden SPQR-Krimis von John Maddox-Roberts regelmäßig auftaucht (ich kann nur wieder einmal die bei Audible/Amazon erhältlichen 13 Hörbücher der Reihe wärmstens empfehlen!).


Über  die vorliegende Ausgabe: Für die Übersetzung verantwortlich zeichnet Werner Albert Golder. "De Medicina" macht dabei den Löwenanteil der über 900 Seiten aus. Die überlieferten Einlassungen von Celsus zur Landwirtschaft, Rhetorik usw. bestehen hingegen nur aus relativ wenigen, kurzen Texten.
Das Buch verfügt über ein ausführliches Vorwort, eine Erörterung der Rezeptionsgeschichte, ein umfangreiches Register, ein Literaturverzeichnis und nützliche Anmerkungen in Form von Endnoten, die das sinnerfassende Lesen sehr erleichtern; wobei anzumerken ist, dass trotzdem manch von Celsus verwendeter Begriff für uns rätselhaft bleibt. 

Fazit: Alles in allem handelt es sich hier um die gelungene Ausgabe einer sehr interessanten Schriftquelle der Antike. Wenn da nur nicht der Kaufpreis wäre ...

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4 Kommentare:

  1. Immer wieder erstaunlich, was es für spannende antike Bücher gibt, von denen ich nie etwas gehört habe :-)
    Der Preis ist nicht ohne, aber ich denke, hier kann ich nicht widerstehen. Gibt es eben einen Monat lang nur Wasser und Brot zum Essen ;-)

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    1. In dem Fall wünsche ich viel Spaß beim Lesen und guten Appetit ;)

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  2. Interessant, aber nicht leistbar. Aus diesen Gründen schau ich öfter auf Flohmärkten und dergleichen vorbei, mein letzter Erwerb war eine 4-bändige Naturgeschichte Wiens, J&V, 1974. Abendlektüre, momentan der Abschnitt Kulturpflanzenbau.

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    1. Ja, für viele Leute leider zu teuer. Es werden deshalb auch nur wenige Privatiers zu den Käufern zählen.

      Schnäppchen aus dem Antiquariat sind eine feine Sache, schlage da auch immer wieder zu.

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