Trotz des Titels "Die Zukunft unserer Moral" beschäftigt sich Matthias Drescher im vorliegenden Büchlein vor allem mit der Vergangenheit. Genauer gesagt mit dem in der Antike von Griechen und Juden errichteten Moral-Fundament, auf dem später das Christentum mit seiner zentralen Botschaft aufbauen konnte: Der Nächstenliebe.
Folgt man den Gedankengängen des Autors, dann hätte es eine Religion wie das Christentum noch wenige Jahrhunderte zuvor recht schwer gehabt, bei vielen Menschen auf fruchtbaren Boden zu fallen. Grund: Man steckte zu fest in den eigenen lokalen, oft düsteren Mythen, die Halt gaben. Allerdings hatten Mitleid - und noch viel weniger Nächstenliebe - darin Platz. Auch Trost für Verstorbene gab es hier kaum. Wer tot war, landete in der Unterwelt. Punkt.
Erst die Entwurzlungen großer Menschenmassen - die der Hellenismus mit seinen Feldzügen und Stadtgründungen fern der alten Heimat mit sich brachte - schufen die Voraussetzung für einen neuen Blick des Menschen auf sich selbst und andere. Nur weil man die alten mitleidlosen Mythen hatte zurücklassen müssen, war es möglich geworden sich moralisch weiterzuentwickeln. Damit einher ging eine Bedeutungszunahme der Empathie im Umgang miteinander ("Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu!"). Ähnliche, mitunter sogar noch stärkere Entwicklungen gab es auch im Judentum jener Tage. Das im jüdisch-hellenistischen Umfeld entstehende Christentum trieb diesen Wandel dann mit seinem Gebot der Nächsten- und sogar Feindesliebe sozusagen auf die Spitze. Auch heute noch, in einer Zeit, die in unseren Breiten eigentlich durch einen starken Bedeutungsverlust des Christentums gekennzeichnet ist, bleibt das Gebot der Nächstenliebe weiterhin in den Köpfen der Menschen bestehen. Anders als der Gläubige geht es dem Nichtgläubigen aber dabei weniger um die Angst vor dem Tod bzw. dem Danach (Stichwort "Jüngstes Gericht"), sondern schlicht um die viele Jahrhunderte alten Erfahrungswerte, dass Nächstenliebe von gesellschaftlichem und letztendlich auch persönlichem Nutzen im Hier und Jetzt sein kann (wobei mir die Anmerkung gestattet sei, dass seit einigen Jahrzehnten diese in unserem Denken tief verwurzelte Nächstenliebe zunehmend zu einem politischen Vehikel umfunktioniert wird, welches in Form einer bedingungslos eingeforderten Zwangssolidarität zur moralischen Erpressung von mitunter ganzen Bevölkerungen missbraucht wird; wohl nicht zufällig sind gerade christlich geprägte Kulturen besonders anfällig dafür).
Fazit: Ich kann die Ausführungen des Autors meist nachvollziehen bzw. ihnen zustimmen, jedoch nicht in einem zentralen Punkt: Mir will es unwahrscheinlich erscheinen, dass sich in der Alltagspraxis der vorchristliche Mensch hinsichtlich der Moral wesentlich vom durchschnittlichen Christen der Antike und des Mittelalters unterschied (von Detailfragen abgesehen). Ein Blick in die mit Niedertracht gefüllten Geschichtsbücher bestätigt mich darin. Erst Humanismus und Aufklärung haben meiner Meinung nach zu einer echten 'Zivilisierung' des Menschen geführt. Sicher, dabei baute man - trotz zunehmender Distanz zur Religion - mitunter unbewusst auf der christlichen Lehre und gerade dem Gebot der Nächstenliebe auf.
Doch sei es wie es sei, das vorliegende Büchlein hat mir unterm Strich gut gefallen. Es ist kurzweilig geschrieben, gibt Einblick in antike geistig-religiöse Entwicklungsprozesse und enthält darüber hinaus manch interessanten Gedanken, den tiefer zu ergründen sich lohnen kann.
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Weiterführende Informationen:
Wobei das Gebot der Nächstenliebe ja bereits aus der Tora stammt, also schon viele Jahrhunderte vor der Zeit Jesu bestand.
AntwortenLöschenDas stimmt. Das Christentum hat die Nächstenliebe dann ins Zentrum gerückt und es damit sozusagen auf die Spitze getrieben (in der Lehre, sicher nicht immer in der Praxis).
LöschenDeshalb beschreibt das Buch, wie dieses alte Gebot (das zunächst nur eines von vielen war) im Hellenismus in den Mittelpunkt der jüdischen Moral gerückt ist. Für die christliche Mission bei Nichtjuden (vor allem Griechen) wurde es aus den alten Gesetzen dann herausgelöst. Insofern ist die christliche Nächstenliebe aus einer Wechselwirkung zwischen Griechen und Juden entstanden.
AntwortenLöschenHört sich überraschend interessant an! Danke Hilti und Herr Drescher. Ich denke, das Buch werde ich mir demnächst kommen lassen!
AntwortenLöschenGerade die Verbindungen zwischen Christentum, Judentum und Helleniemsu sind spannend.
Das freut mich! Vielleicht melden Sie sich ja dann noch mal.
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