Freitag, 29. Oktober 2021

📖 Buch: Sapphos Lieder - Die dichtende Lesbe und Frau des Herrn Penis

Sappho war eine aus gutem Haus stammende  Liebeslyrikerin und "Liederproduzentin", die um 600 vor Christus auf der Insel Lesbos lebte. Von späteren griechischen Autoren wurde sie aufgrund ihres überdurchschnittlichen Talents auch als die 10. Muse bezeichnet. Heute gilt sie als die bedeutendste weibliche Dichterin der Antike. Feministinnen wiederum haben sie u.a. deshalb zu ihrem Idol auserkoren, da sie in Sappho eine außerordentlich emanzipierte Frau sehen, die in einer von Männern beherrschten Welt lebte. So soll sie mit einem Kreis von jungen Schülerinnen, die sie auf dem damaligen Fernhandelsknotenpunkt Lesbos um sich geschart hatte, gleichgeschlechtliche Liebe praktiziert haben - was dann wiederum im Laufe der Zeit zu dem Begriff Lesbe führte.

In Wirklichkeit weiß man von der tatsächlichen Sappho herzlich wenig. Der Mythos, welcher sie bereits in der Antike eingehüllt hat, vernebelt den Blick auf die historische Person nahezu total. Es fängt beispielsweise schon damit an, dass ihr relativ früh verstorbener Ehemann angeblich den Namen Kerkylas trug, was ungefähr so viel wie 'Herr Penis' bedeutet😄. Sozusagen als Dreingabe soll er auch noch von der Insel Andros stammen - eine Ortsbezeichnung, die schlicht und ergreifend mit 'Mann' übersetzt werden kann. Es entsteht hier der Eindruck, als ob sich Sappho oder - viel wahrscheinlicher - einer ihrer Biographen einen deftigen Scherz erlaubt hat. In einer anderen Überlieferung heißt es dann sogar, die (im Rahmen der Rezeptionsgeschichte verherrlichte) Vorzeigelesbe Sappho sei nicht einmal besonders schön gewesen; freilich, der Autor lebte lange nach ihr und hatte sie nie persönlich gesehen. Demgegenüber wurde sie auf antiken Vasenmalereien als eine klassische griechische Schönheit dargestellt. Ob zu Recht oder zu Unrecht, konnte allerdings bereits damals niemand sagen. Dementsprechend macht es wenig Sinn, im Rahmen dieser Rezension sich mit all den pseudobiographischen Informationen im Detail auseinanderzusetzen, die Historiker und Altphilologen im Laufe der Zeit zusammengeklaubt haben (was nicht bedeutet, dass dieser Aspekt grundsätzlich uninteressant ist). 

Ich bin kein ausgesprochener Feingeist, daher ist für mich an antiken Texten wie dem vorliegenden vor allem der historische Informationsgehalt interessant: Genauer gesagt: Was lässt sich hier aus erster Hand über das Alltagsleben der damaligen Menschen herausfinden bzw. inwiefern wird vorhandenes Wissen über z.B. Kultur, Soziales, Religion usw. bestätigt oder widerlegt? Außerordentlich hilfreich ist hierbei der umfangreiche, gut strukturierte Anhang, der rund die Hälfte der 448-seitigen Reclam-Ausgabe von Anton Bierl beansprucht. Dort werden u.a. Begriffe/Text-Passagen sowie ihr historischer Kontext erläutert.
Hier nun einige Beispiele für interessante Informationen über eine Welt, die Sappho aus eigener Anschauung schildert. Gleichzeitig sollen die zitierten Textstellen auch gewisse Verständnisprobleme für den modernen Leser sichtbar machen.

... und die Füße 
verhüllten buntes Sandalenleder, lydisches 
    schönes Handwerk
39

Stellten Schuhwerk aus dem kleinasiatischen Lydien etwas Besonderes bzw. Begehrenswertes dar? Auf jeden Fall scheint hier ersichtlich zu werden, dass Lederprodukte in der Antike gefärbt waren. Doch halt: Ob im konkreten Fall wirklich "bunt" - also mehrfarbig - gemeint ist, bleibt für mich etwas rätselhaft. Denn im griechischen Originaltext steht "ποικιλος μάσλη"; meine Vokabelsuche spuckte diesbezüglich "vielfältig honigfarben" aus. "Honigfarben" würde freilich auf ungefärbtes hellbraunes Leder hindeuten - was eventuell auch durch das darauf folgende Vokabel "Λυδιον" unterstrichen wird, da dieses laut Pons.com u.a. mit "Bräunungston" (der Haut / des Leders) übersetzt werden kann. 
Freilich, meine Griechischkenntnisse - und somit auch meine Interpretationsfähigkeit - als äußerst bescheiden zu bezeichnen, wäre schon fast eine Beschönigung. Umso mehr gilt für alle Leser, denen es ähnlich geht: Man kann solchen Übersetzungen nie hundertprozentig vertrauen. Vieles ist beim Übersetzungsprozess Interpretations- und Abwägungssache. Das gilt auch für die folgenden Beispiele, die ich nicht alle extra einer Überprüfung unterzogen habe. Deshalb bitte mit Vorsicht genießen. Man muss allerdings dem Übersetzer zugutehalten, dass er teilweise in den Fußnoten auf solche Unsicherheiten aufmerksam macht.

Die nächste Textpassage lässt mich ebenfalls schwer grübeln: Sind hier wirklich die aus Holz gefertigten Kastagnetten gemeint? Oder nicht doch eher die in der Antike weit verbreiteten Zimbeln aus Metall? Ich konnte freilich weder vom einen noch vom anderen etwas Eindeutiges im Originaltext ausmachen. 
Klanglich besteht zwischen den beiden Musikinstrumenten jedenfalls ein starker Unterschied - eine genaue Übersetzung wäre hier deshalb wünschenswert, damit der Leser sich bestmöglich in die von der Autorin beschriebene Stimmung hineinversetzen kann.

...
... gleich den Göttern
... heilige dicht gedrängt
bricht auf nach Ilion.
Der süßklingende Flötenklang ... mischte sich
mit dem lärmenden Rasseln der Kastagnetten. Und die Mädchen sangen ein heiliges Lied ; es stieg zum Luftraum empor 
der göttliche Echoschall, (Lachen erhob sich)...
Überall in den Straßen gab es ...
Mischkrüge und Schalen ...
Myrrhe, Zimt und Weihrauch mischten sich,
und die Frauen, sowie sie samt älter waren, stießen den gellenden 
Opferschrei aus,
und alle Männer ließen den beliebten Schrei, den hellen, 
erschallen,
wobei sie Paian dazu riefen, den Fernhintreffer mit der schönen Lyra,
und sie priesen im Hymnos Hektor und Andromache, 
die göttergleichen.
44, 20-30


Auch über Totenrituale erfährt man etwas bei Sappho:

- Es stirbt, Kytheira, der zarte Adonis. Was können wir tun?
- Schlagt euch die Brust, Mädchen, und zerreißt eure 
Unterkleider.
140

Dieses - aus moderner westlicher Sicht - übertriebene und eher würdelos anmutende Verhalten, gehörte in der Antike vielerorts zum Standardprogramm. Es gab sogar professionelle Klageweiber, die gegen Bezahlung ihre Show abzogen. 


... Denn jene, die mich gebar, sagte einst,
dass in ihrer Jugend es als großer Schmuck
galt, wenn eine das Haar trug,
indem sie es mit mit einem purpurnen Flechtband sich zum Dutt
einwickelte,
wahrlich, ein rechter (Schmuck) sei dies gewesen,
aber für eine, wenn sie blonderes Haar hat
als der gelbe Fackelschein, sei es viel besser,
es mit Kränzen zu schmücken
aus Blumen in voller Blüte.
Aber jüngst kam an den Ruhm von Mitren,
von bunten, aus Sardes
bis zu den Ionischen Städten.
98a

Dieses Textbeispiel deutet darauf hin, dass sich schon in der Antike die Mode relativ rasch verändern konnte (was etwa den meisten Film- und Unterhaltungsfuzzis offensichtlich überhaupt nicht klar ist, wenn man ihre diffuse und pauschalisierende Vorstellung von der Antike betrachtet). Außerdem wird hier ersichtlich, dass dazumal auch in der griechischen Welt helles Haar nicht völlig unüblich gewesen sein dürfte. Man denke außerdem an Alexander den Großen, Helena von Troja und die ebenfalls in antiken Texten als blond beschriebenen spartanischen Frauen. Freilich, ob es sich dabei tatsächlich immer um naturblonde Haare gehandelt hat - oder ob die Überlieferung gar maßlos übertreibt bzw. zu sehr verallgemeinert - kann nicht mehr beantwortet werden. Andererseits sollte man es tunlichst vermeiden, sich allzu sehr am Erscheinungsbild heutiger, nahezu durchwegs 'dunkler' Griechen zu orientieren. Diese sind, auch wenn viele von ihnen es nicht gerne hören, definitiv nicht zu 100 Prozent genetisch identisch mit den Griechen der Klassik und des Hellenismus. Schlicht und ergreifend weil allzu viele fremde Völkerschaften später durch Hellas marschierten und es z.T. lange besetzt gehalten haben. Auch die heutigen Deutschen sind ja nicht lauter Ebenbilder der Germanen des Arminius (wobei gerade die ohnehin ein kurioser Sonderfall sein könnten).


Ziel der Übersetzung war es offenkundig, sie sprachlich so zu gestalten, dass der moderne Leser leichter Zugang zu Sapphos Texten findet. Gelegentlich scheint man es nach meinem Dafürhalten aber übertrieben zu haben...

Glücklicher Bräutigam, von dir ist die Hochzeit, ganz wie du dir 
wünschtest,
vollzogen, und eine Jungfrau hast du, die du dir wünschtest:
Sexy ist deine Figur, die Augen ...
mit sanftem Aufschlag, und Liebreiz ergießt sich weit und breit
auf deinem bezaubernden Gesicht
... geehrt hat im Übermaß dich Aphrodite
112


Deutlich weniger um eine allgemeine Verständlichkeit bemüht war der Herausgeber hingegen phasenweise im umfangreichen, prinzipiell nützlichen Nachwort ...

Zentral sind dabei die Ergebnisse von Karl Bühler und Émile Benveniste: die Zeigewörter, die das Zeigefeld im Hier und Jetzt oder Da und Damals eröffnen; Bühlers Deixis, die lokale und temporale Deixis, die Demonstratio ad oculos, die auf das Hier und Jetzt zielt, aber auch die Deixis am Phantasma, die auf einen imaginären Ort im Da und Damals verweist; die Personaldeixis, die auf ein Ich und Wir als Sprecher und auf die Adressaten eines Du und Ihr referiert. Gerade in der Frage des lyrischen Ichs wird die klare Dichotomie von entweder realer, mit dem Autor identischer oder poetisch-fiktiver Person aufgehoben. 
S 402

😂 Nicht alles verstanden? Kein Grund sich zu schämen. Eher im Gegenteil, deutet dies doch darauf hin, dass man - anders als der Herausgeber - nicht in einem Wolkenkuckucksheim lebt. Nichts gegen den guten Mann persönlich, aber auf diese schlaudeutsche Fremdwortvöllerei hätte er nach meinem Dafürhalten verzichten sollen. Vermutlich kann er jedoch nach jahrelangem Aufenthalt in seiner akademischen-universitären Blase gar nicht mehr anders.

Freilich, Sappho selbst hatte ebenfalls eine Vorliebe für verklausulierte Formulierungen bzw. Paraphrasierungen, die mich oftmals rätselnd lassen.

Mit bebenden Erschütterungen zerreißt du mich sinnlos
aufgrund eines Verlangens, das mir meine Knie löst
...
(26[bzw 26b]) - Kyprislied

Handelt es sich hier um eine Umschreibung für "Beine breit machen"? Oder geht hier bloß meine schmutzige Fantasie mit mir durch? Heißt es stattdessen vielleicht, dass eine geile sexuell erregte Frau weiche Knie bekommt?

Weils so schön ist, gleich noch ein Beispiel, welches in eine ähnliche Richtung geht:

Nacht ...

Mädchen, ...
die ganze Nacht feiernd ...
besingen deine Liebe und
... (die) veilchenbusige Braut.
Auf, wache auf, gehe (und rufe) die Jünglinge,
deine Altersgenossen, damit wir
(einen kürzeren Schlaf), als wie ihn die Helltönende
(=die Nachtigall) hat,
sehen.
30

"Veilchenbusige Braut"? Was darf man sich darunter vorstellen? Mir sind sind nur 'vollbusig' und 'flachbusig' ein Begriff. Ein Veilchen-Tattoo auf dem Busen wird hier wohl auch nicht gemeint sein. Was bleiben also für Erklärungsmöglichkeiten? Eventuell ist ein nach Veilchen-Parfum duftender weiblicher Vorbau gemeint? Das könnte ich mir vorstellen, werden Veilchen doch schon seit mindestens der Antike genau dafür verwendet. 

Beispiele wie die beiden letzten sind freilich noch recht harmlos: So richtig knifflig wird es hingegen, wenn Sappho mit Formulierungen und Anspielungen arbeitet, die vom Leser ein profundes Wissen hinsichtlich der griechischen Götterwelt und Mythologie verlangen. Der vorbildliche Anhang hilft gerade hier oft weiter.

FAZIT: Man sieht, selbst ein vermeintlich angestaubter antiker Text kann - nebst historischen Informationen - Stoff für ein wenig Unterhaltung bieten. Sofern man locker an ihn herangeht und vorab keine falschen Erwartungen hegt. Die große Liebeslyrik, die einen zum Träumen bringt, werden hier meiner Einschätzung nach aber nur wenige Leser finden. Zu fragmentarisch und oftmals zu verklausuliert ist der Großteil von Sapphos überliefertem Werk. Wissenschaftler und historisch interessierte Laien dürften aus dieser zweisprachigen Ausgabe, die auch erst kürzlich entdeckte Texte von Sappho beinhaltet, hingegen ihren Nutzen ziehen können. Wobei gute Griechischkenntnisse gewiss von Vorteil sind, denn wie schon oben verdeutlich, beinhalten solche Übersetzungen mancherlei Unschärfe.


PS: Was hat es eigentlich mit den z.T. höchst wunderlichen Zeileneinrückungen auf sich (siehe die oben von mir ausgewählten Beispiele, bei denen ich das berücksichtigt habe)? Ich kenne ähnliche Eskapaden auch von Homer-Übersetzungen, aber dort ist das bei weitem nicht so extrem. Wer kanns mir erklären? Meine Erfahrung mit dieser literarischen Textgattung ist nämlich überaus dürftig.

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Weiterführende Informationen:

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6 Kommentare:

  1. Zustimmung, man sollte solche antiken Texte nicht aufs Podest heben. Und was die Übersetzung betrifft: Die Altphilologen lesen sowieso den Originaltext, die Menschen ohne Griechischkenntnisse müssen wohl oder übel auf die Übersetzung zurückgreifen. Gefällt mir aber, dass in der Rezension deren Unzuverlässigkeit mit Beispielen herausgestrichen worden ist. Ich habe nämlich schon so oft mit Leuten im Reenactmentzirkus zu tun gehabt, die stolz von ihren Entdeckungen in antiken Texten erzählt haben, nur um dann von jemandem mit z B Lateinkenntnissen aufgeklärt zu werden, dass in Wirklichkeit in der Übersetzung etwas "hinzugedichtet" worden ist.
    Wünsche ein schönes Wochenende

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    1. Ja, gerade bei lateinisch-deutschen Ausgaben fällt mir das auch häufig auf (Griechisch kann ich ja kaum). Ich hatte dazu schon mal im Blog etwas geschrieben, und zwar hinsichtlich der Frage, ob in den alten Texten für Senatorentuniken nun ein oder zwei breite Streifen überliefert worden sind. Die Übersetzungen sind da mitunter nicht so ganz koscher.
      Ich wünsche dir ebenfalls ein schönes Wochenende.

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  2. Mich würde es nicht überraschen, wenn auch das Lesben-Narrativ Erfindung ist und auf männliche Fantasie zurückgeht, denn die griechische Frau wurden von ihrem männlichen "Vormund" (egal ob Ehemann oder Vater) regelrecht zuhause weggesperrt. Warum sollte es sich also ausgerechnet bei Sappho anders verhalten, wenn doch so viele Informationen in ihrer Vita offenbar kaum den Tatsachen entsprechen können?
    Feministinnen beschweren sich sooooo gerne darüber, wenn der männliche Blickwinkel und die männliche Vorstellung geschichtliche Überlieferungen möglicherweise oder tatsächlich beeinflussen. Aber bei Sappho nimmt man das einfach so hin? Vielleicht weil es zur eigenen Weltanschauung gut passt? ;-)

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    1. So unwissenschaftlich und leicht durchschaubar würden Feministinnen niemals nicht agieren ;)

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  3. Man ist sozusagen auf Gedeih und Verderben dem Übersetzer ausgeliefert. Dass das so problematisch sein kann, war mir nicht bewusst, ehrlich gesagt. Sehr interessant aber!
    V.Della

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  4. "Herr Penis"?
    Das ist ungefähr so wie wenn heute jemand mit Vornamen "Dick" heißt.
    ;-)

    Der Wanderschmied

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