Montag, 15. April 2024

Flavius Josephus über jüdische "Parallelgesellschaften" in der Antike und warum der israelische Nationalheld Simon bar Kochba als "Sohn eines Lügners" bezeichnet wurde


Sich mit Rom anzulegen (noch dazu auf dem Höhepunkt seiner Macht) war selten eine gute Idee. Besonders nicht für ein vergleichsweise kleines Völkchen. Doch wenn die Massen erst einmal religiösen Fanatikern und politischen Verführern* hinterherlaufen, dann gerät der gesunde Menschenverstand leicht ins Hintertreffen. Selbstüberschätzung gewinnt stattdessen die Oberhand. So war es für Zeitgenossen sicher keine Überraschung, dass etwa die beiden großen jüdischen Kriege im 1. und 2. Jahrhundert jeweils zu Ungunsten der in der Provinz Judäa lebenden Juden ausgingen - mit katastrophalen Auswirkungen. Es folgte nämlich die Vertreibung bzw. die Zerstreuung der jüdischen Bevölkerung in alle Windrichtungen. Doch völlig neu war diese Situation ("Diaspora") für das jüdische Volk nicht. So führten etwa - ebenfalls nach einem verlorenen Krieg - schon Jahrhunderte vorher die Babylonier die zwangsweise Umsiedlung eines Teils der Juden in Richtung Zweistromland durch. Bibel-Forscher meinen, dass es dieses sogenannte "Babylonische Exil" war, welches Autoren des Alten Testaments zu der Erzählung von der Befreiung der Juden aus der ägyptischen Sklaverei durch Moses inspirierte. Vergessen darf man hier auch nicht, dass die jüdischen Kernländer an der Levante lange Zeit von den Pharaonen Ägyptens beherrscht wurden. Auch das wird in die biblische 'Story' eingeflossen sein, so wie ja überhaupt die ägyptische Kultur großen Einfluss auf das im Entstehen begriffene Judentum hatte - siehe etwa die Beschneidung oder das Schweinefleischverbot. Die Moses-Story war also eine Mischung aus historischen Ereignissen und viel Fiktion. 

Der jüdisch-römische Geschichtsschreiber Flavius Josephus, der ursprünglich als Kriegsgefangener während des Jüdischen Kriegs im 1. Jahrhundert nach Rom gelangte, hat in seinem umfangreichen Werk "Jüdische Altertümer" auch die besagte 'Gefangenschaft' der Juden in Ägypten beschrieben. Obwohl es sich - wie schon gesagt - dabei in der Realität wohl eher um die ägyptische Fremdherrschaft auf jüdischem Boden gehandelt haben dürfte, die dann im Kontext der späteren babylonischen Umsiedlung zu einer Versklavung in Ägypten uminterpretiert wurde. Doch wie auch immer, die Schilderungen des Josephus spiegeln vermutlich eine interessante historische Tatsache wieder. Nämlich das Ringen um die Bewahrung der jüdischen Identität in einem Staat, der nicht der eigene ist. Das Mittel der Wahl war dabei eine Abgrenzung gegenüber den fremden Herren.

Als nun Joseph von seines Vaters Ankunft Kunde erhalten (Judas war nämlich vorausgeeilt, um ihm dieselbe zu melden), ging er ihm entgegen und traf ihn bei der Stadt der Heroën. Vor allzu großer Freude wäre da Jakob beinahe gestorben. Joseph aber erfrischte ihn wieder; obgleich auch er sich vor Freude kaum halten konnte, hatte sie ihn doch nicht so ergriffen wie den Vater. Dann hieß Joseph seinen Vater langsam nachkommen; er selbst aber eilte mit fünf seiner Brüder zum (ägyptischen) König und meldete ihm, dass Jakob mit seiner ganzen Familie angekommen sei. Dieser nahm die Nachricht freudig auf und erkundigte sich bei Joseph, welche Lebensweise sie vornehmlich führten, damit er ihnen zur Fortsetzung derselben behilflich sein könne. Joseph entgegnete, sie seien vortreffliche Hirten, außerdem aber verständen sie keinen anderen Beruf. So wollte er verhüten, dass sie voneinander getrennt würden. Sie sollten vielmehr zusammenwohnen und für den Vater sorgen und nicht zu viel Verkehr mit den Ägyptern pflegen, wie es geschehen wäre, wenn sie mit ihnen dieselbe Lebensweise geführt hätten. Denn den Ägyptern war es verboten, Herden zu weiden.
Flavius Josephus | Jüdische Altertümer 2,7,5 | Marix Verlag, 2018

Auch in der viel späteren jüdischen Diaspora war diese Abgrenzung ein Kernelement (obschon sich nicht einmal annähernd jeder Jude streng daran hielt). Gut möglich ist, dass man von entsprechenden Texten im Alten Testament - auf die ja auch Flavius Josephus in seinen oben zitierten "Jüdischen Altertümern" ausgiebig zurückgreift - inspiriert wurde.
Diese Abgrenzung war allerdings ein zweischneidiges Schwert. Zwar konnte man seine kulturelle Identität bewahren, doch gleichzeitig nahm einen die Mehrheitsbevölkerung als Fremdkörper wahr, was schlussendlich sogar Ablehnung hervorrief (wir kennen das heute auch noch, Stichwort "Parallelgesellschaften"). Dieser antijüdische Groll war im Übrigen kein rein christliches Phänomen, das erst virulent wurde, als das Christentum im Römischen Reich, also in großen Teilen der antiken Welt, zur Staatsreligion emporstieg. Vielmehr existierte er schon in der polytheistischen Phase Roms. Besonders deutlich wird das in einem Zitat, welches vom römischen Geschichtsschreiber Tacitus stammt. Er schreibt:

"Unheilig ist bei den Juden alles, was bei uns heilig ist, und erlaubt ist bei ihnen, was für uns unrein ist."
H.D. Stöver | Christenverfolgung im Römischen Reich | Econ Verlag, 1982

Ins selbe Horn stößt der antike Autor Philostratos:

"Die Juden sind uns in ihrem Wesen ferner als Susa, Baktra (beides in Persien) und die Inder. Denn sie teilen unser Leben nicht und teilen mit anderen Menschen weder Mahlzeiten noch Verträge, weder Gebete noch Opfer."
H.D. Stöver | Christenverfolgung im Römischen Reich | Econ Verlag, 1982

Die - zumindest so wahrgenommenen - monotheistische Eigenbrötelei der meisten Diaspora-Juden führte also zu einer ablehnenden Haltung durch die autochthone Bevölkerung. Extrawürste wie die Befreiung vom verbindenden Element des Kaiserkults (etwas, das man den Christen nicht zugestand), kamen bei manch Beobachter naturgemäß weniger gut an. Darüber hinaus ist sogar eine Befreiung vom Militärdienst überliefert.

Man muss auch die jüdischen "Ghettos" in den Städten des europäischen Mittelalters im Lichte der obigen Haltung weiter Teile der Diaspora-Juden sehen. Die räumliche Abgrenzen hatte nämlich eine lange Tradition; bereits in der Antike lebten ja Juden und andere Ethnien/Glaubensgemeinschaften oft in getrennten Stadtvierteln, wie etwa Alexandria bezeugt. Aber auch in Rom gab es jüdische Zusammenballungen, beispielsweise will der Jude Philo von Alexandria den Transtiber-Distrikt quasi in jüdischer Hand vorgefunden haben. 
Bei all dem handelte es sich entweder um selbst gewollte oder staatlich angeordnete Abgrenzungen. Oft war dergleichen ohnehin seitens aller Parteien erwünscht. Wenn auch das Ausmaß der Eingriffe durch die Obrigkeit im Laufe der Jahrhunderte von christlicher Seite zunehmend überschießend wurde. Das änderte sich in Europa erst deutlich im Zuge der Aufklärung, nachdem die Religion als zentrales Identifikationsmerkmal an Bedeutung verloren hatte. Und zwar für Juden und für Christen. In weiterer Folge überaus ungünstig für die europäischen/westlichen Juden war aber, dass ab dem späten 19. Jahrhundert auffällig viele von ihnen - vielleicht aufgrund historischer Erfahrungen - dem Marxismus zuneigten, nachdem sie der Religion den Rücken gekehrt hatten. Später zog der antimarxistisch eingestellte Nationalsozialismus daraus den pauschalisierenden Schluss Jude = Marxist/Kommunist und 'veredelte' diese Annahme mit rassistischen Elementen; stark vereinfacht ausgedrückt. Das Ende vom Lied ist jedenfalls bekannt. 


* Ergänzendes zur Einleitung: Der zentrale politische Verführer, welcher schlussendlich die nahezu totale Vertreibung der Juden aus Judäa zu verantworten hatte, war Simeon bar Kokeba / Simon bar Kochba. Interessanterweise wird dieser Mann von Politikern des modernen Staats Israel zu einem Helden hochstilisiert, obwohl sein Name lange Zeit in der jüdischen Tradition als "Bar Kozeba" verballhornt wurde, was so viel wie "Sohn des Lügners" bedeutet. Die abwertende Bezeichnung spielt, wie H.D. Stöver in seinem Buch Christenverfolgung im Römischen Reich schreibt, darauf an, dass Bar Kochba die Juden um ihre Hoffnungen betrog. Dieser vermeintliche Nationalheld soll es auch gewesen sein, der laut dem antiken christlichen Autor Justinius während seiner kurzen Herrschaft Zwangsbeschneidungen anordnete und sogar eine Christenverfolgung initiierte:

Davon kann euch die Tatsache überzeugen, daß in dem zu unseren Lebzeiten geführten Kriege Barchocheba, der Anführer des jüdischen Aufstandes, die Christen allein zu schrecklichen Martern verurteilt hat, wenn sie Jesus Christus nicht verleugneten und lästerten.
Justinus | Apologie 1,31 | in Christenverfolgung im Römischen Reich | Econ Verlag, 1982

Es darf wohl passenderweise mit dem jiddischen Begriff "Chuzpe" bezeichnet werden, wenn ausgerechnet ein Scharlatan, der sich selbst als eine Art Messias präsentiert, Menschen verfolgen lässt, weil sie dem Glauben an einen mutmaßlich falschen Messias anhängen... 

Dieses für das historische Verhältnis zwischen Christen und Juden sicher nicht ganz unwichtige Ereignis wird übrigens im entsprechenden Wikipedia-Artikel über Simon bar Kochba mit keiner Silbe erwähnt. Auch abseits von Wikipedia wird man nur selten etwas darüber finden. Der Leser mag seinen Verstand an der Frage schärfen, warum darüber so ungern geschrieben wird. 

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1 Kommentar:

  1. Scheint fast so, als ob dort die Rolle der religiösen Fanatiker, die das eigene Volk in die Katastrophe führen, damals noch wer anders gepielt hat.

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