Montag, 10. November 2014

Der Utrechter Psalter als Bildquelle frühmittelalterlicher Alltagskultur - Teil 2: Antike Versatzstücke

Nachdem zuletzt die im karolingischen Utrechter Psalter häufig in Erscheinung tretende Bogenwaffe besprochen wurde, sollen nun einige der zahlreichen antikisierenden Elemente näher beleuchtet werden.
Die 166 Illustrationen des Buches bilden ja, wie bei mittelalterlichen Handschriften üblich, vor allem die Entstehungszeit ab. Der verantwortliche Zeichner hatte trotzdem den Versuch unternommen, die in der Antike angesiedelte Handlung der religiösen Texte mit einem "authentischen" Ambiente zu versehen. Aufgrund mangelnder bzw. mangelhafter Vorlagen stellt das Endergebnis jedoch ein inkonsequentes Mischmasch dar. Als Quelle für die Rekonstruktion frühmittelalterlichen Alltagslebens (von antikem ganz zu schweigen) ist der Utrechter Psalter - trotz seines diesbezüglichen Detailreichtums - daher nur mit Vorsicht zu genießen.  


Beispiel A | Bilder 1, 2, 3
Quelle: Utrechter Psalter, Seiten 167142, 104  / Utrecht, University Library

Ähnliche Helme, wie sie auf den Bildern 1-3 zu sehen sind - es handelt sich wohl um eine Variante des böotischen Helms ("attisch-böotischer Mischtyp"), wurden bereits von Xenophon im 5. Jh. v. Chr. für die Reiterei empfohlen. Dieses Modell war dann auch lange Zeit bei den Makedonen/Diadochen, in Großgriechenland/Süditalien sowie in der späten römischen Republik recht beliebt, wie Marcus Junkelmann in Die Reiter Roms zu berichten weiß. Auch könnten "Krempenhelme" bis in die frühe Kaiserzeit hinein von Offizieren getragen worden sein. Dies legt etwa folgende Rekonstruktion aus dem Buch Das Heer des Varus nahe. Grundlage hierfür ist neben antiken Darstellungen ein Fund, der heute im Archäologischen Museum Hamburg besichtigt werden kann.
Mehr oder weniger breitkrempige Helme fanden überdies im Rahmen von Gladiatorenkämpfen Verwendung sowie bei Herrscherbildnissen, hellenisierten Darstellungen römischer Soldaten und Abbildungen von Göttern auf unzähligen Münzen.
Doch auf welchem Weg  hielt diese für die Antike typische Helmform (der ähnliche Morion kam ja erst viel später auf) in mehreren Handschriften des frühen Mittelalters Einzug? Beim Utrechter-Psalter handelt es sich nämlich nicht um das einzige Beispiel, wie etwa die fränkischen Panzerreiter im Goldenen Psalter der Stiftsbibliothek St. Gallen zeigen. Archäologen fanden bisher jedenfalls keinen einzigen Hinweis, dass im Entstehungszeitraum der betroffenen Werke solche Helme in Verwendung waren.
Aus diesem - und noch einigen anderen Gründen - dürfte man es hier mit einer Darstellungsform zu tun haben, die sich an den oben geschilderten antiken Vorbildern orientiert. Die Strahlkraft eines einzigen Künstlers/Illustrators - eventuell aus der einflussreichen Palastschule Karls des Großen - reichte vielleicht schon aus, diesen antikisierenden Helm für einige Zeit als Quasi-"Standard" in Teilbereichen der frühmittelalterlichen Ikonographie zu etablieren. Doch, das muss klar betont werden: Nichts Genaues weiß man nicht!

Weniger häufig -  aber doch oft genug um aufzufallen - finden sich Darstellungen von Glockenpanzern bzw. Harnischen im Utrechter Psalter, siehe etwa die Bilder 1 und 2 (sowie hier). Unter diesen starren Rüstungen ragen die gewöhnlich aus Leder oder Leinen gefertigten Bänder einer Subarmalis hervor. Beide Merkmale sind vor allem für die Darstellung römischer Offiziere oder Kaiser typisch, wie dieses Beispiel mit Nero zeigt (Man beachte hier auch den links am Boden liegenden Helm der oben besprochenen attisch-böotischen Bauform).
Im frühen Mittelalter waren solche Harnische nach derzeitigem Wissensstand nicht mehr gebräuchlich. Es handelt sich demnach ebenfalls um ein vom Zeichner bewusst ausgewähltes antikisierendes Element.
Übrigens, die Pose bzw. weit ausholende Geste des Kriegers auf Bild 2 wirkt doch reichlich theatralisch - beinahe wie aus einer Shakespeare-Aufführung - aber das ist sicher nur Zufall ;)





Beispiel B | Bilder 4, 5
Quelle: Utrechter Psalter, Seiten 100104 / Utrecht, University Library

Was mag das Vorbild für dieses Säulenmonument auf Bild 4 gewesen sein? Man kann hier nur spekulieren, da wir nicht genau wissen, welche römischen Bauwerke im frühen Mittelalter noch existierten bzw. dem Illustrator von alten Darstellungen her bekannt waren. Es gäbe jedenfalls selbst heute noch einige Kandidatinnen.

Bei Bild 5 fühlt man sich doch sehr an Atlas erinnert, der, laut griechischer Mythologie, das Himmelsgewölbe trägt. Mit dem christlichen Text auf der betreffenden Seite ginge dies - soweit ich das beurteilen kann - freilich nicht völlig konform. Andererseits sucht man derlei klare Zusammenhänge im Utrechter Psalter häufig vergebens, sodass manch Interpretationsspielraum bleibt.




Beispiel C | Bilder 6, 7
Quelle: Utrechter Psalter, Seiten 178, 29 / Utrecht, University Library

Die für mich überraschendste Entdeckung zum Schluss:
Getrost kann ja davon ausgegangen werden, dass in karolingischer Zeit längst keine Wagenrennen oder Triumphzüge mit Vierspännern mehr üblich waren. Dementsprechend handelt es sich bei den Darstellungen auf den Bildern 6 und 7 wieder einmal um antike Versatzstücke. 
Bemerkenswert erscheint mir jedoch das stromlinienförmige Design der Quadriga, mit der auf Bild 7 gut erkennbaren, nach innen gezogenen Oberkante. So etwas ist mir bisher noch nie untergekommen. Erich von Däniken würde es vielleicht als Indiz für die Prä-Astronautik interpretieren ;)
Vor allem ist aber das im Inneren des Wagens zu erkennende Gittermuster hochinteressant, denn hier wird wohl gezeigt, was man selbst auf antiken Darstellungen solcher Gefährte beinahe immer "unterschlägt": Nämlich das Flechtwerk aus Rohhautriemen oder Weidenruten, welches zwecks Gewichtsreduktion bereits bei altägyptischen Streitwägen anstelle einer starren Holzplattform üblich war. Der karolingische Zeichner verfügte demnach über eine sehr detailreiche Vorlage bzw. Informationsquelle.






Nicht extra erwähnt habe ich in diesem Beitrag die unzähligen togati (Togaträger), die den Utrechter Psalter bevölkern. Auch sie sind ein Beleg dafür, dass sich der Illustrator antike Motive - bzw. Kopien davon - zum Vorbild nahm.

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6 Kommentare:

  1. Hiltibold, danke für diesen Beitrag. Diese Panzerung ist mir, im Gegensatz zu den eigenartigen Helmen, bisher noch gar nicht aufgefallen......
    Hast du bemerkt, dass im Utrechter Psalter mehrfach Unterstände abgebildet sind, unter denen die Menschen ihrem Tagewerk nachgehen und z.B. Wolle verarbeiten? Erinnert dich das vielleicht an etwas ;-)

    Grüßle,
    Maria

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    1. Ja, das ist mir aufgefallen - und ja, es erinnert mich auch an etwas. Wobei diese Unterstände im Utrechter Psalter allerdings nicht mit industriellen Zeltplanen wie beim Campus Galli gedeckt wurden - auf den du sicher anspielst ;)
      Dass diese Unterstände andererseits oft mit einem Ziegeldach dargestellt wurden, bringt mich auch ins Grübeln. Das wirkt eigentlich wie ein "Overkill". Möglicherweise sollte einfach nur ein Blick ins Innere der Häuser gewährt werden, indem man die Wände quasi durchsichtig gemacht hat.

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    2. So ein Haus mit fehlender Wand findet man z.B. in späterer Zeit auf dem Februar-Bild der "Très riches heures du duc de Berry", siehe etwa
      http://en.wikipedia.org/wiki/File:Les_Très_Riches_Heures_du_duc_de_Berry_février.jpg
      Dort soll auch das Innere des Hauses gezeigt werden.

      - Exilwikingerin -

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    3. Ein wirklich sehr schönes Beispiel für diesen künstlerischen Kniff!

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  2. Könnte man den Gedanken der Antikenrezeption nicht so weit spinnen, dass diese Helme in karolingischer Zeit tatsächlich in Anlehnung an das Römische Kaiserreich hergestellt wurden? Z.B. für kleine Eliteeinheiten, wie die Leibwache?

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    1. Hmm, das könnte man schon. Aber wurde auch die noch häufiger anzutreffende Toga oder der Plattenpanzer/Brustpanzer in der Realität imitiert? Davon ist leider aus archäologischer Sicht nichts bekannt, so dass es mir ehrlich gesagt auch unwahrscheinlich erscheint, dass diese "handfeste" Antikenrezeption einzig und alleine auf den Helm zutreffen soll.

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