Dienstag, 10. November 2015

Dreierlei Pfeilköcher aus dem frühen Mittelalter

Man nimmt an, dass es sich bei der modernen Bezeichnung Köcher um ein Lehnwort aus turk-mongolischer bzw. turk-tatarischer Sprache handelt, das indirekt über seine byzantinische Variante koukouron und besonders das mittellateinische cucurum weite Verbreitung in Europa fand: afries. koker, adän. kager, althdt. kohhar oder chohher, afrz. cuivre (von daher die englische Bezeichnung quiver), usw. usf. (Quelle: Reallexikon der Germanischenb Altertumskunde, Band 17)
Bild: Köcher Awaren Alamannen Wikinger
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(keine Rechte vorbehalten, ausgenommen die Nennung der Quelle: Hiltibold.Blogspot.com)

1. Awarischer Köcher von Bosca

Bedauerlicherweise konnte ich für diesen Köcher keine exakte Datierung ausfindig machen; stattdessen wird er in meiner Quelle (siehe unten) lediglich als Beigabe für einen verstorbenen Awaren-Fürsten bezeichnet, dessen Grab Archäologen im süd-ungarischen Ort Bosca entdeckten.
Über eine Zweipunkteaufhängung sowie mithilfe von rosettenförmigen Beschlägen wurde der Köcher an der linken Seite eines reich verzierten Gürtels befestigt (rechts befand sich ein Schwert). Die Ränder der geschwungenen Öffnung ("Mündungskragen") sind mit filigranen Metallspangen verziert (von mir zeichnerisch nicht extra hervorgehoben).
Wie besonders bei östlichen Reiterkriegern üblich, wurden die Pfeile mit nach oben zeigenden Spitzen transportiert (siehe auch die unter Punkt 3 angefügten Abbildungen aus dem Utrechter Psalter). Einerseits war es dadurch möglich, die mit verschiedenen Spitzen versehenen Pfeile leichter auszuwählen, andererseits konnten sie in der Nähe ihres Schwerpunktes gegriffen werden, was das Einlegen in den Bogen erleichterte - besonders zu Pferde.
Interessant erscheint in diesem Zusammenhang die Konstruktionsweise des Köchers, aufgrund derer es nicht nötig war, von oben nach Pfeilspitzen zu angeln. Vielmehr konnten die Pfeile über eine seitliche Öffnung am Schaft angefasst und entnommen werden. Dementsprechend verringerte sich das Verletzungsrisiko - ganz besonders wenn der Schütze auf dem unruhigen Rücken eines Pferdes saß und "blind" nach neuen Pfeilen griff, um eine schnelle Schussfolge ("Kadenz") aufrechtzuerhalten - was ja bekanntlich der typischen Kampfweise von Awaren, Hunnen, Ungarn usw. entsprach. 
Passend zu den nach oben zeigenden Pfeilspitzen verbreitert sich der Boden des Köchers zwecks besserer Aufnahme bzw. zum Schutz der Befiederung.


2. Alamannischer Köcher von Altdorf

Entdeckt wurde dieser Köcher - den man zeitlich in das letzte Drittel des 7. Jahrhunderts einordnet - in der Kirche von Altdorf (Kanton Uri, Schweiz). Er befand sich auf der rechten Seite im Grab eines schwerbewaffneten Reiterkriegers und besteht aus einem geschnitzten, zweischaligen Lindenholzkorpus, der mit dünnem Rindsleder überzogen ist. Die Oberfläche wurde mit eingeschnittenen und in Presstechnik hergestellten Mustern verziert (von mir nur andeutungsweise gezeichnet). 
Der Köcher ist ca 70 cm lang und am Boden 8,5 cm breit. Nach oben verjüngt er sich um etwas mehr als einen Zentimeter. Seine Befestigung am Gürtel wurde möglicherweise mittels einer Zweipunkteaufhängung realisiert, deren Lederriemen in einer jener beiden Nuten Aufnahme fanden, die rings um den Köcher laufen.
Da der untere Teil bedauerlicherweise nicht erhalten ist, kommt sowohl ein fester Boden infrage wie auch ein aufklappbarer, der das Befüllen mit Pfeilen erleichtert hätte. Deren Spitzen zeigten - wie schon beim awarischen Köcher Nr. 1 - nach oben. Weitere Gemeinsamkeiten legen die Vermutung nahe, dass sich die Alamannen - über den Umweg der Langobarden - von awarischen Traditionen inspirieren ließen. 
Rekonstruktionen ergaben, dass der Köcher von Altdorf eine schallverstärkende Wirkung besitzt; Pfeile erzeugen einen klappernden Lärm, der besonders bei der Jagd ein Problem darstellt. Das Auspolstern mit Fell oder Stoff erscheint daher sinnvoll. Archäologisch konnten diesbezüglich jedoch wohl keine eindeutigen Spuren festgestellt werden.
Der neben dem Köcher entdeckte Stulpdeckel aus Rindsleder besitzt in Westeuropa eine lange Tradition. So wurde beispielsweise im Grab des keltischen Fürsten von Hochdorf (6. Jh. v. Chr.) ein ähnlicher Fund gemacht.


3. Wikingerzeitlicher Köcher von Haithabu

Einige in der ehemaligen Wikingersiedlung Haithabu (Busdorf, Schleswig-Hollstein) entdeckte Fragmente aus Kalbs- und Rindsleder wurden als die Überreste mehrere Köcher unterschiedlicher Bauart gedeutet. Das am besten erhaltene  Exemplar konnten Experimentalarchäologen in Anlehnungen an Darstellungen auf dem Teppich von Bayeux (spätes 11. Jh.). sowie im Utrechter Psalter (um 830) rekonstruieren. Letztere Quelle ist auch Grundlage für die von mir hinzugefügte Schutzkappe, welche wohl zumindest in einigen Fällen mit Schnüren am Köcher befestigt wurde - siehe nachfolgendes Bild unten links.

Bild: Mittelalter Köcher Utrechter Psalter
Die Länge des rekonstruierten Köchers - der bisher nur sehr grob in die "Wikingerzeit" datiert wurde - beträgt 62 cm. Aufgrund der besonders sorgfältigen Machart (z.B. gleichmäßige Nahtlöcher) wird eine professionelle Herstellung abseits des üblichen "Haushandwerks" vermutet. 
Pfeile wurden in diesem nicht versteiften Köcher höchstwahrscheinlich mit nach unten zeigenden Spitzen transportiert, da die Befiederung anderenfalls allzu leicht hätte Schaden nehmen können. Indizien liefert hierzu auch der Teppich von Bayeux (siehe unten), welcher damit allerdings im Widerspruch zu den Darstellungen des Utrechter Psalters steht, wo die Spitzen eindeutig nach oben zeigen; doch möglicherweise hatte man dort an eine robustere Konstruktion mit Holzkorpus gedacht - ähnlich dem alamannischen Köcher aus Altdorf. Hinzu kommt, dass den Künstlern des Mittelalters ohnehin kein allzu blindes Vertrauen geschenkt werden darf, da diese sich häufig von vergangenen Epochen bzw. alten Bildquellen inspirieren ließen. Besonders beim Utrechter-Psalter, der noch in der Tradition der "karolingischen Renaissance" entstand (habe ich da gerade im bayrischen Vohenstrauß jemanden lachen hören?), ist äußerste Vorsicht geboten, da er unzählige antike Versatzstücke enthält. Man denke nur an die berühmt-berüchtigten Helme oder die römische Quadriga(!): Weitere Infos dazu 

Bild: Köcher Teppich von Bayeux

Eine Frage der Haltung

Beim Schreiben an diesem Blogbeitrag fiel mir wieder einmal auf, in welch merkwürdiger Weise auf dem Teppich von Bayeux die Bögen gespannt werden. Der Arm wird hier nicht in Schulterhöhe abgewinkelt, sondern eher im Bereich des Bauchs bzw. Magens. Handelt es sich um künstlerisches Unvermögen oder um eine gebräuchliche Technik? Sollte vielleicht so eine hohe Schussfolge erzielt werden, wenn das genaue Zielen im Angesicht eines rasch heranstürmenden, dicht gedrängten Gegners keine große Bedeutung besaß?

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Die Vorlagen für meine Zeichnungen fand ich in folgenden Büchern:


10 Kommentare:

  1. Sehr interessant! Kann man aber den Wandteppich von Bayeux eigentlich noch guten Gewissens zur Wikingerzeit zählen? Will heißen, taugt das noch für die Rekonstruktion des Haithabu-Köchers durch Eperimentalarchis? (Bin da immer etwas überkritisch)

    Dominique M.

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    1. Ja, bei solchen Rekonstruktionen ist ein kritischer Blick durchaus angebracht.

      Die auf dem Teppich dargestellte Schlacht von Hastings fällt ins Jahr 1066 - als in England kurz zuvor auch noch die Schlacht von Stamford Bridge stattfand. Dieses Ereignis, bei dem der norwegischen König Harald Hardråde vernichtend besiegt wurde, wird von vielen Forschern als Schlusspunkt der Wikingerzeit angesehen.
      Natürlich sind diese Epochengrenzen alles nur Krücken. Die Wikinger von 1066 haben sich in mancherlei Hinsicht (besonders in religiöser) bereits stark von ihren Vorgängern unterschieden, die rund 200 Jahre zuvor ganz Westeuropa in Brand setzten.
      Handwerklich - und da sind wir jetzt beim Köcher - wird sich meiner Ansicht nach allerdings nur mäßig viel verändert haben. Es gibt sogar Köcherdarstellungen aus dem Spätmittelalter, die noch sehr den obigen ähneln.
      Ich kann hierzu nur die unten verlinkten Bücher empfehlen - besonder das von Holger Riesch. Auch wenn dort nicht der Köcher aus Haithabu vorkommt, so wird doch sehr gut ersichtlich, wie außerordentlich lange sich bestimmte handwerkliche Traditionen gehalten haben.

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  2. Von H. Riesch gibt es noch den sehr lesenswerten Beitrag "Historische Pfeilköcher in Mitteleuropa. Römische Kaiserzeit bis zum Ende des Frühmittelalters", in: Karfunkel 46 (2003), S. 30ff. (und die Fortsetzung "Vom Hohen MIttelalter bis zur Renaissance" in: Karfunkel 50 (2004), S. 93ff.)
    Einiges davon habe ich kürzlich übernommen: "Pfeiltransport im Mittelalter", in:
    Traditionell Bogenschießen 88 (August 77), S. 62-67.

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    1. Leider habe ich kein Karfunkel-Abo, aber dort stehen zu dem Thema in der Tat immer wieder interessante Artikel.

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    2. Die Hefte kann man einzeln bestellen, aber Nr. 46 scheint vergriffen zu sein: http://www.karfunkel-verlag.de/shop/index.php

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  3. Wer lacht denn da in Vohenstrauß??

    Lg,
    Volker

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  4. Bocsa datiert aufs (eher späte) zweite Drittel des 7. JH. Köcher wurde rechts getragen, links hing am selben Gürtel die Bogentasche für den abgespannten Bogen. Das Schwert wurde an einem separaten Gürtel befestigt, der mit den wappenförmigen Beschlägen. Die Abdeckung am Altdorfköcher ist eine Klappe keine Stulphaube, ebenfalls nach Vorbild der zentralasiatischen Stundenglasköcher. lg Stephan

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